Gebieterin der Finsternis
Angst zog sie ihr Anthame aus der Tasche. Suchte er noch nach ihr? Sie konnte nur hoffen, dass ihre Vielteilung seines Ortungsmals ihn lange genug von ihrer Spur ablenkte.
Der Sonnenuntergang war fast da. Am westlichen Himmel war blass die aufgehende Mondsichel zu sehen. Der Mondsteinanhänger zwischen ihren Brüsten fühlte sich schwer und heiß an. Artemis rückte ihn so hin, dass er exakt über der Hauptenergielinie des Grabmals war. Lieber wäre ihr gewesen, sie hätte sich näher an die Grabmale trauen können, doch der eingezäunte Bereich und der angrenzende Parkplatz waren viel zu überfüllt mit magischen Leuten. Es musste so gehen.
Sie beugte sich runter und malte mit der Klingenspitze einen Kreis auf die Erde. Die unsichtbare Kraft verlief beinahe genau durch die Mitte. Als Nächstes beschwor sie einen Schutzring herauf, der sie umfing. Ruhe legte sich über sie, als sie die Magie des gesegneten Bodens in sich aufnahm.
Die Feiernden um sie herum wurden immer ausgelassener, je näher der Sonnenuntergang rückte, warfen ihre Kleidung ab und tanzten nackt um die Feuer. Es blieben nur noch wenige Minuten, dann musste sie das Portal öffnen und Malachis Totenreich betreten. Wenn alles nach Plan verlief, würde sie noch vor Sonnenaufgang mit Sanders Seele wieder herauskommen.
Als die Sonne den Horizont berührte, atmete Artemis einmal ein, streckte den linken Arm aus und setzte die Spitze ihres Dolchs an der Ellbogenbeuge an. Das Treiben außerhalb ihres Kreises nahm sie nur noch sehr gedämpft wahr. Die Geräusche verhallten weit entfernt, während ihre Lippen sichbewegten, um Worte von einer Scheußlichkeit zu formen, dunkel und tödlich, dass sich das Gespinst der menschlichen Welt auflehnte. Die Luft wurde dünner, und gleichzeitig dehnte sich der Raum aus. Die Klinge drang in die Haut ein, brannte und trieb Blut hervor, das ihr den Unterarm hinunterrann.
Artemis sprach Malachis Namen.
Reine Todesmagie sammelte sich. Als ihr Gleichgewicht aus den Fugen geriet, wurde ihr schlecht. Sie schluckte gegen die Übelkeit an, musste aber alles an Willenskraft aufbringen, was sie besaß, um dem Drang zu widerstehen, auf der Stelle den Kreis zu verlassen und zu fliehen. Sie umfasste den Dolchgriff noch fester und richtete die Klinge auf die Luft vor sich. Das Gewebe der Wirklichkeit vor ihr, das bereits dünner geworden war, riss auf, und sie zielte auf die Stelle, an der sich der Spalt zeigen sollte.
Das tat er nicht. Stattdessen blendete sie strahlendes Grün. Der Strahl kam aus der Klinge ihres Anthames und drehte sie in ihrer Hand, entwand sie ihr. Der Dolch kippte einfach um, rotierte mehrmals, zerschnitt den Schutzkreis und bohrte sich schließlich in die Erde vor ihr.
»Nein!«, hauchte sie entsetzt. Ihr erster Gedanke war, dass Mac sie eingeholt hatte. Götter, nein! Nicht jetzt. Nicht wo sie so nahe war.
Starke Magie, Lebensmagie, hielt sie bäuchlings im Matsch. Artemis wehrte sich, trat um sich und versuchte, sich umzudrehen, um ihn wenigstens zu sehen, aber es war sinnlos. Sie stieß einen schnellen todesmagischen Zauber aus und schleuderte ihn hinter sich.
Sie hörte, wie der Zauber traf, aber der Druck auf sie verringerte sich kein bisschen.
»Lass gut sein«, sagte eine kalte Frauenstimme voller Verachtung.»Das war erbärmlich. Bekommst du nichts Stärkeres zustande?«
Artemis gefror das Blut in den Adern. Das war auf jeden Fall nicht Mac.
»Wer … ufff.« Sie bekam keine Luft mehr, als sie etwas mit dem Gesicht in den Schlamm drückte. »Lass mich los!«, prustete sie in den Matsch.
»Wohl kaum, Hexe.«
Die Kraft, die Artemis unterdrückte, drehte sie kurzerhand auf den Rücken, so dass sie blinzelnd zu ihr aufsehen konnte. Zu Artemis’ Verwunderung stand eine große, zarte Frau vor ihr, die nicht älter als zwanzig sein konnte. Sie trug ein grünes Seidenkleid, dessen Mieder von Goldpaspel eingefasst war. Darunter war ein schmaler Rock mit gehäkeltem Zipfelsaum, der ihre Knie und Waden umspielte. An ihren bloßen Armen hatte sie Goldreife, an den Füßen goldene Sandalen. Ihre blondes Haar war raffiniert geflochten und wie eine Krone um ihr Haupt geschlungen, so dass ihr langer Hals und ihre eindeutigen Sidhe-Ohren freiblieben.
Ihre glitzernd grünen Augen kamen Artemis unheimlich bekannt vor.
»Seid … seid Ihr Macs Mutter?«, flüsterte Artemis. »Die Sidhe-Königin?«
»Still, Hexe. Du bist nicht wert, den Namen meines Sohnes auszusprechen.«
Götter! Sie war geliefert. Und
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