Gebissen
vermied aber, ihn anzusehen.
»Keine Ahnung. Wir erwähnen ihn gar nicht.«
»Ich denke, er hat seinen Tod gespürt?«
»Ja. Aber vielleicht irritiert unser selbstverständliches Schweigen ihn lange genug, bis wir zuschlagen können.«
»Vielleicht.« Lisa nickte und biss sich auf die Lippe. Das war mit Sicherheit kein sonderlich raffinierter Plan, aber es klang vielversprechender, als schreiend und mit brennenden Fackeln in den Händen hineinzustürzen.
Lisa fragte nicht, warum Sandy jetzt doch bereit war, ihren Blutvater zu töten. Sie befürchtete, dass sie ihre Meinung wieder ändern könnte, wenn sie darüber nachdachte, dass sie ihre Loyalität wiederentdeckte oder ihre Angst vor ihm.
»Ich hab dich belogen«, sagte Sandy leise, als sie alles zusammengetragen hatten.
»Belogen? Lässt du mich jetzt doch im Stich?«
»Unsinn. Du hast mich vorhin gerettet, du bist meine Freundin und nur meinetwegen hier. Nein, wegen Alex hab ich dich belogen. Er hat nichts von dem gesagt, was ich dir erzählt habe. Er ist sicher nicht normal im Kopf, aber auf irgendeine verquere Art liebt er dich. Was das mit dieser Nephilim vor deinen Augen sollte, weiß ich nicht, aber er hat so einen seltsamen Rettertick dir gegenüber, er wollte dich vor mir warnen. Vor uns Vampiren. Ich kann dir nicht sagen, was er genau für dich empfindet, nicht einmal, was er ist. Er ist kein Mensch, das ist klar, aber auch kein richtiger Vampir. Vielleicht ein Vaterloser, aber ich weiß doch selbst viel zu wenig, ich war ja nur ein paar Tage ...« Sandy zuckte mit den Schultern. »Das ist jetzt alles egal. Ich wollte nur sagen, dass ich dich angelogen habe.«
»Warum ...?«
»Weil ich wollte, dass du eine von uns wirst.«
»Nein. Warum sagst du es mir jetzt?«
»Weil ich nicht sicher bin, ob ich nachher noch kann. Besser, ich werde das los, bevor wir uns in den Tod stürzen. Das war die letzte sichere Gelegenheit dazu. Du solltest es einfach wissen. Es tut mir wirklich leid.«
»Schon gut.« Lisa atmete schwer durch. Darüber würde sie nachher nachdenken, sofern es ein Nachher gab. Nein, nicht sofern. Es würde eins geben, es musste einfach. »Wir werden nicht sterben.«
»Ich hoffe es. Aber ich weiß nicht, was mit mir geschieht, wenn mein Vater stirbt.«
Lisa krampfte es Herz und Magen zusammen. An diese Verbindung hatte sie noch gar nicht gedacht. Sie klappte den Mund auf, brachte jedoch kein Wort heraus, sah Sandy einfach nur flehend an und schüttelte den Kopf, als könnte sie damit den Gedanken aus der Welt wischen.
»Jetzt komm schon. Wir werden es herausfinden«, sagte Sandy und bemühte sich um einen leichten, lässigen Tonfall. »Dreh dich um, gib mir deine Hände.«
Noch immer bedröppelt von der Vorstellung, Sandy würde sterben, ganz egal, wie dieser Kampf ausging, gehorchte sie. Sandy packte ihre Hände und fesselte sie mit Streifen von Jos Trainingshose an eine mannshohe verlöschte Fackel, die bis vor kurzem noch am Kopf der Halle in der Erde gesteckt hatte. Sie zog das Seil nicht fest, machte nur einen schwachen Knoten, und doch fühlte sich Lisa plötzlich hilflos. Angst kroch ihr unter die Haut.
Was, wenn Sandy ihre Entscheidung doch wieder umwarf und Lisa einfach ihrem Blutvater übergab, wie sie es die ganze Zeit vorgehabt hatte? Möglicherweise hoffte sie, ihn so zu besänftigen und sich ihr Leben zu erkaufen. Wenn sie bei einem Sieg über ihren Vater tatsächlich starb, wäre das ihre einzige Hoffnung zu überleben.
Lisas Mund war trocken, sie wusste nichts zu sagen. Es war ohnehin zu spät. Wenn das hier keine List gegen den Blutvater war, sondern die perfide Vorbereitung auf das Ritual, gegen das sie sich die ganze Zeit gewehrt hatte, oder wenn er ihre List sofort durchschaute, dann stand sie in wenigen Sekunden gefesselt und wehrlos vor ihm. Das Eisen der Fackel lag kühl auf ihrer Haut, die Pulsadern in ihren Handgelenken pochten wild, und die locker gebundenen Stoffstreifen schienen schwer zu sein wie die Kette um Jos Hals.
»Ist es zu fest?«, fragte Sandy.
Lisa schüttelte stumm den Kopf.
»Gut. Dann wollen wir.«
Lisa versuchte, sich innerlich zu wappnen. Trotz aller hastiger Beschreibungen von Sandy wusste sie nicht, was sie erwartete, wusste nicht, wie der Blutvater aussah. Ein Wesen, das unter ganz Berlin lebte, konnte kaum menschliche Formen haben, konnte nicht aussehen wie seine bluttrinkenden Kinder. Mehr Zeit für Erklärungen blieb jedoch nicht, er konnte jederzeit erwachen, sobald Sandys
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