Gebissen
bei Sonnenschein auf dem schmalen Rasenstreifen dahinter. Es waren nicht immer dieselben, sie sprachen unterschiedliche Sprachen, aber es waren immer Punks.
Am Wasser angekommen, drehte er sich noch eine zweite Kippe, was er selten tat. Er stand auf der Mitte der Oberbaumbrücke an der steinernen Balustrade unter einem der vielen Bögen, auf denen die U1 fuhr. Hier war die Spree breit.
In aller Ruhe zündete er sich die Zigarette an und zog ganz langsam an ihr. Dann nahm er einen Schluck Bier und starrte in die Richtung des verlassenen Osthafens. Links ragte dort ein Kran in den Nachthimmel, nahe dem rechten Ufer tanzten drei große durchlöcherte Statuen auf dem Wasser. Hinter ihm stapften lachende Stimmen vorbei, Autos fuhren von Kreuzberg nach Friedrichshain und umgekehrt, doch er drehte sich nicht um, sondern blickte weiter aufs Wasser, das dunkel unter ihm dahinfloss. Unter seinem Bogen fühlte er sich von allem abgeschieden.
Ein sanfter Wind wehte zwischen den Brückenpfeilern hindurch, und Alex spuckte einen Tabakkrümel aus. Dabei dachte er darüber nach, wie es wäre, jetzt zu springen, auf dem Wasser aufzuschlagen, langsam zu versinken, tiefer, immer tiefer, gezogen von den vollgesogenen Klamotten, bis hinab in den schweren Schlick am Grund des Flusses, um dort einfach zu sterben und eins zu werden mit dem Boden. Irgendwann wurde ohnehin jeder Mensch zu Kompost. Oder zu Asche, klar. In der Erde zu versinken, hatte für ihn nichts Erschreckendes, es würde sein, als käme er nach Hause.
Er nahm noch einen Schluck Bier, schwang sich auf die Steinbrüstung, zog die Füße hoch und starrte rauchend und trinkend weiter ins Wasser. Die leise plätschernde Schwärze ein paar Meter unter ihm erschien ihm so verlockend, die Tiefe so einladend, er wusste nicht, warum er nicht springen sollte. Er brauchte keinen Grund, es zu tun, seit Jahren suchte er immer wieder Gründe, es nicht zu tun.
Dabei dachte er weder den ganzen Tag an Selbstmord noch hörte er Stimmen, die ihm befahlen, sich die Pulsadern aufzuschneiden, doch manchmal brauchte er seinen ganzen Willen zum Weiterleben. Dann packte ihn diese dumpfe schwarze Leere, die in ihm lauerte, und überrollte ihn. Es war keine Verzweiflung, keine Angst, keine Schwermut, es war eine Art taube Schwärze, die unvermittelt über ihn hinwegschwappte. Als wäre er schon gestorben, völlig gefühllos, und müsste nur noch den Tod nachholen. Das tiefe dunkle Wasser zog ihn an wie jeder Abhang in den Bergen, jede Tiefe vor einem Fenster, der harte Asphalt unter einem Balkon oder einer Brücke und eine einfahrende U-Bahn, wenn er am Bahnsteig wartete. Immer ging er dann einen Schritt zurück, weil er nicht wusste, ob sein Körper nicht doch einfach springen würde, auch gegen seinen Willen. Um mitgerissen, um von den schweren Eisenrädern in die Erde gemanscht zu werden.
Das schwarze Wasser plätscherte und wartete.
Zentimeter um Zentimeter beugte er sich weiter hinab. Er könnte sich einfach fallen lassen, und alles wäre für immer vorbei.
»Verdammt«, murmelte er und schlug mit der Faust gegen die Steinsäule, so dass die Fingerknöchel aufgeschürft wurden und spitzer Schmerz durch seine Finger fuhr, bis hinauf ins Handgelenk. Schmerz half gegen die Taubheit in seinem Innern.
»Nein«, knurrte er. Er würde sich nicht umbringen, niemals, die verdammte Leere würde ihn nicht besiegen, auch heute nicht.
Zitternd stieg er wieder zurück auf den Fußweg der breiten Brücke, brachte die Balustrade zwischen sich und die wartende Spree.
»Verdammt«, fluchte er noch einmal und schleuderte die Zigarette fort. Zwei, drei orangefarbene Funken lösten sich im Wind, dann verlosch die Kippe im Wasser und wurde von den Wellen schaukelnd davongetragen. Diese Leere war ein Teil von ihm, und doch begriff er sie nicht als solchen. Er sah in ihr einen Feind, der sich in ihm festgesetzt hatte und den es in Schach zu halten galt.
Zwei Mädchen liefen hinter ihm vorbei, die eine schwärmte von einem Tom, der so furchtbar süß sei, die andere sagte: »Wenn du ihn anmachst, kratz ich dir die Augen aus. Er hat mich zuerst angesprochen, nicht dich.«
Wie schön , eine beste Freundin zu haben, dachte Alex, starrte weiter zum Osthafen und spuckte in den Fluss; er wollte den Geschmack der Zigarette loswerden. Dann nahm er einen langen Zug vom Bier.
Warum drängte es ihn danach, sich umzubringen? Er war kein Teenager mehr, warum hörte das nicht auf? Dieser Leere in ihm war es egal,
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