Gebissen
Wohnhauses, Alex hatte sich aus Gewohnheit vom Rand ferngehalten, um nicht zu springen, doch der Drang war nicht da. Die Fenster der gegenüberliegenden Häuser lagen dunkel, nur hinter einem Vorhang schimmerte bläulich das Licht eines Fernsehers. Von der Straße drangen immer wieder Motorengeräusche herauf, wie auch die wütenden Rufe eines Betrunkenen. Die Sterne leuchteten hell, und als eine Sternschnuppe hinter dem Fernsehturm verglühte, wünschte er sich, er würde endlich verstehen, was mit ihm geschah. Hastig schickte er ihr noch den Wunsch hinterher, sich nicht in eine bluttrinkende Bestie zu verwandeln. Bitte! Er fragte Danielle nach den Blutvätern, von denen sie oft sprach, schließlich waren diese der Ursprung der Vampire.
Sie erklärte ihm, dass diese, wie auch die selteneren Blutmütter, in der Erde ruhten, und ein jeder von ihnen sah anders aus. Nur wenige ähnelten Tieren wie die Kreatur in der Scheune. Es waren teils äußerst bizarr geformte Wesen, die sich wie Flechten, Wurzelwerk oder gigantische Quallen mit unzähligen Tentakeln unter Siedlungen oder alten Schlachtfeldern erstreckten. Sie wurden aus dem versickernden Blut und Tränen geboren, wenn mit diesen genug Hass und Rachedurst in die Tiefe gelangte. Manchmal entstanden sie aus dem Blut eines einzigen Toten, der mit einem schrecklichen Fluch aus tiefstem Herzen starb, manchmal aus dem eines verratenen und aufgeriebenen Heers. Jede Stadt der Welt barg genug dunkle Geschichten, um einen Blutvater zu gebären, auch wenn nicht jede es tat. Ihre Geburt war keine exakte Wissenschaft, sie folgte keinen universellen Regeln.
Doch war er einmal geboren, dann dämmerte er in der Tiefe und nährte sich von allem Blut und den Tränen, die in seiner Nähe versanken, saugte sie auf wie ein unersättlicher Schwamm. Jeder Tropfen ließ ihn wachsen, und je größer er wurde, desto größer war seine Reichweite, desto mehr Tropfen erreichten ihn. Über Jahrhunderte und länger lagen sie in ihrer Heimaterde und taten nichts anderes als Blut saufen und wachsen. Dabei schwitzten sie die Schmerzen und Schreie, die Wut und die Angst, die alle mit in die Tiefe gewaschen wurden, als Alpträume wieder aus. Alpträume, die sich wie unsichtbarer Nebel über ihre Städte legten und in die Köpfe der Schlafenden krochen.
Alex konnte sich nicht vorstellen, wie Schreie, Schmerzen, Wut und Angst irgendwie in die Tiefe gewaschen werden konnten, aber Danielle hatte gesagt, dass Blutväter von keiner Wissenschaft erklärt werden konnten. Zumindest von keiner, deren Formeln ein Mensch oder Nephilim bisher auch nur ansatzweise entschlüsselt hatte.
Sie lebten in der Erde, und Alex’ Gedanken an Selbstmord hatten immer in der Erde geendet: im schlammigen Becken eines Flusses, von Eisenbahnrädern in den Boden gepresst oder mit aufgeschnittenen Adern auf offenem Feld. Nie hatte er sich erhängen wollen. Auf einer intuitiven Ebene passte alles zusammen.
Noch hatte Danielle ihm nicht erzählt, weshalb sie zu ihm zurückgekommen war, stets blockte sie ab, wenn er nach ihr fragte oder auch nach Nephilim im Allgemeinen. Also versuchte Alex, der Sache über Umwege nahe zu kommen.
»Weshalb sind Vampire und Nephilim eigentlich verfeindet?«, fragte er. »Du hast doch irgendwas von Sodom gesagt. Das ist ja schon eine Weile her. Bist du sicher, dass die Geschichte stimmt?«
»Ja. Auch wenn es lange her ist, so schlecht ist mein Gedächtnis nicht.«
Alex nickte höflich, dann kam der Gedanke erst richtig bei ihm an. »Dein Gedächtnis?«
»Ja, Gedächtnis. Das ist dieses Ding, mit dem man sich an alles erinnert, was man erlebt. Du hast davon gehört?« Sie lächelte.
»Was man erlebt?«
»Ja. Ich war damals noch recht jung ...«
»Moment, Moment. Du willst mir erzählen, du bist über dreitausend Jahre alt? Viertausend?« Er sah sie an, den makellosen Körper, den er auf neunundzwanzig geschätzt hatte, unvergängliche, ewige neunundzwanzig. Diesen Körper, der aussah, als hätte das Leben keine Spuren auf ihm hinterlassen.
»Willst du jetzt über mein Alter reden oder über Sodom?«
Alex sah sie an und lachte leise vor sich hin. Nach dem, was er heute schon alles hingenommen hatte, würde er wohl mit ihrem Alter im vierstelligen Bereich auch noch klarkommen. Wenigstens konnte ihm jetzt seine Mutter nicht mehr vorwerfen, er würde nur auf deutlich jüngere Frauen stehen. »Erzähl mir einfach von Sodom.«
Sie nickte und begann:
»Auch wenn wir Nephilim eher
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