Geboren im KZ: Sieben Mütter, sieben Kinder und das Wunder von Kaufering I (German Edition)
sein. Damals, an dem Tag ihrer Ankunft in Auschwitz-Birkenau. Es war der 17. Juni 1944, als Erna Klein mit Miriams Familie das Vernichtungslager erreichte. Sie erinnert sich genau daran, da sie an diesem Tag siebzehn wurde. Sie lächelt traurig. Dann steht sie mit einem Ruck auf und holt Mineralwasser, eine Flasche Cola und Plätzchen. Es kostet sie einige Überwindung, als sie schließlich erklärt, sie werde alle Fragen beantworten. Aber fotografieren will sie sich auf keinen Fall lassen. Am Vortag, erzählt sie, hatte sie noch mit Miriam telefoniert, wie sie es jede Woche tut. Miriam habe sie geschimpft, weil sie nicht erzählen wollte. Nicht einmal mit ihr kann Erna über die Ereignisse von damals sprechen. Zu schmerzhaft ist die Erinnerung, zu verwundet die Seele. «Noch heute erschrecke ich, wenn ich einen Mann in Uniform sehe.» So gerne würde sie einmal wieder Miriam sehen, sie umarmen. «Jeder mochte sie. Sie hatte immer hundert Freundinnen gehabt», sagt sie etwas übertreibend und lacht. Dann zögert sie kurz und fügt augenzwinkernd hinzu: «Und auch Verehrer.» Doch erst in Béla habe sie sich verliebt. Erna kannte Miriams Verlobten von seinen Besuchen in Komárno und freute sich schon auf die Hochzeit. Als Miriam dann überraschend nach Miskolc fuhr und dort ohne Familie heiratete, tröstete Erna der Gedanke, dass Miriam jetzt bestimmt glücklich sein müsse. Sie muss sie wie eine ältere Schwester bewundert und geliebt haben. Leider werden sich die beiden Frauen nie sehen. Oft haben sie schon einen Besuch geplant. Aber beide können in kein Flugzeug steigen. Sobald das Flugzeug abhebt, überfällt Erna Klein panische Angst, fühlt sie sich eingesperrt wie damals in dem Zug nach Auschwitz.
Leise erzählt Erna Klein von der Deportation. Laura Schwarcz, Miriams Mutter, hat für die Reise Essen eingepackt, gebratene Hühnerschenkel, für ihre Tochter Lilly, deren zwei Kinder, für Erna und für sich. Trotz aller Bitten verteilte sie das Essen nur häppchenweise. «Sie sagte, dass wir den Hunger aushalten müssen, denn wer weiß, wie lange wir noch fahren werden.» Als sie dann in Birkenau ankamen, mussten sie alles im Waggon lassen. Auch die Hühnerschenkel blieben im Zug. Den ganzen Weg über hatte Laura Schwarcz gebetet. «Wir glaubten, dass Gott uns retten wird. Das hielt uns aufrecht.» Aus ihrem Glauben hat die 17-jährige Ernuschka vielleicht auch die Kraft geschöpft, Miriam trotz der eigenen Not immer beizustehen. Aber das tut Erna Klein als normal ab. «Man gibt doch auch heute», sagt sie. «Das liegt in der Natur des Menschen. Ein Jude soll des anderen Bruder und Bürge sein.» Nach der Zerstörung Jerusalems und des zweiten Tempels durch römische Truppen im Jahr 70 nach Christus gründete Rabbi Joachanan Ben Zakkai die erste Jeshiva. Die Thoraschulen erlangten im Laufe der Zeit die Bedeutung des einstigen Tempels. Der Rabbi und seine Schüler formulierten die Prinzipien der Juden in ihrer Beziehung zu sich und Gott, die den in der Diaspora Verstreuten halfen, ihre Identität zu bewahren. Streng orthodoxe Juden verstanden in ihrer Verzweiflung den Massenmord an ihrem Volk als Strafe Gottes für den Abfall vom Glauben. Solche Deutungen sind Erna Klein allerdings fremd. Zu deutlich sieht sie die Unterdrücker noch vor ihrem inneren Auge. Amon Göth zum Beispiel, «diesen Verbrecher», der einen seiner Hunde auf sie gehetzt hat. «Er biss mir ein Loch in den Oberschenkel.» «Die SS-Männer», sagt sie, «haben sich auch in den letzten Monaten vor Kriegsende nicht geändert.» Solche Menschen, davon ist Erna Klein überzeugt, konnten nicht ein Werkzeug Gottes sein.
Es ist kein Zufall, dass die gläubige Frau in Bnei Berak lebt, einer Stadt, in der die Menschen eine Gemeinschaft leben, die auf eine zweitausend Jahre alte Tradition begründet ist. Es ist eine fremde Welt, die von säkularen Israelis als fast beklemmend empfunden wird und zu der sie keinen Zugang finden. Bei den letzten Wahlen zur Knesset gaben drei Viertel der Einwohner ihre Stimme ultraorthodoxen Parteien. Polizeibeamte, erzählt man sich in Tel Aviv, erwägen, sich als Orthodoxe zu verkleiden, wenn sie in Bnei Berak nach einem Straftäter oder Steuerflüchtigen fahnden. Erna Klein fühlt sich hier aber aufgehoben mit ihren Erinnerungen. Hier ist sie ihren Toten näher als anderswo auf der Welt. Nach ihrer Befreiung aus dem Evakuierungstransport beim oberbayerischen Feldafing im April 1945 ging sie sofort nach Budapest, um
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