Gebrauchsanweisung für den Gardasee
lohnt, sind Surfer eben bereit, Opfer für ihren Sport zu bringen. Die öffentlichen Strände aber, die mehr als zwei Dutzend Handtücher breit sind, lassen sich entlang der gesamten Strecke zwischen Riva und Salò an den Fingern einer Hand aufzählen. Da gibt es den für Gardaseeverhältnisse breiten Kiesstrand von Limone, die ebenfalls breite, aber besonders exzessiv von Surfern genutzte Uferzone von Campione, einen kleinen Geröllstrand in Gargnano, den 100 Meter breiten, aus grobkörnigem Sand gebildeten Lido Azzurro vor der Uferstraße von Maderno und den relativ geräumigen Hauptstrand von Toscolano.
Der zuletzt genannte Strand von Toscolano ist nicht zufällig der südlichste in unserer Aufzählung: Hier treten die Berge allmählich zurück, von hier aus richtet sich der Blick bereits auf den breiten unteren Seeteil, mit anderen Worten: Hier beginnt das Meer-Gefühl am Gardasee. Und doch kann von riviera- oder gar adriaähnlichen Stränden auch im Süden so gut wie nicht die Rede sein. Die wenigen dafür in Frage kommenden Uferzonen sind auch hier meist von Hotels oder, sehr viel extensiver als im Norden, von Campingplätzen besetzt. Auf die Campingurlauber ist die Tourismuswirtschaft am Gardasee dringend angewiesen – aber auf die vielen badelustigen Gäste der unzähligen, nicht über einen kleinen Privatstrand verfügenden Hotels oder Pensionen eben auch. Und so haben es fast alle Gemeinden so gemacht wie die kleine Doppelstadt Toscolano-Maderno: Sie haben sich für den Kompromiß entschieden und verknüpften die Lizenz zum Betreiben von Campingplätzen mit der Auflage, den jeweiligen Campingstrand auch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Die Folge: Gerade an den vergleichsweise breiten Stränden der südlichen Seeorte (manche von ihnen können sogar mit echtem – wenn auch künstlich aufgeschüttetem – Sand aufwarten) herrscht die ganze Sommersaison über heftiges Gedränge. Aber zumindest das erinnert viele Urlauber nun doch wieder an die Adria …
Nahezu perfekt wird die maritime Illusion, wenn man beim Abendessen auch noch das Glück hat, echte Gardasee-Sardinen auf der Speisekarte vorzufinden, frisch gegrillt oder, eine ganz besondere regionale Spezialität, al saor, das heißt zunächst angebraten und dann einen Tag lang in einer Marinade aus viel Olivenöl, ein paar Tropfen Balsamicoessig und Zwiebeln eingelegt. Aber Moment mal – Sardinen? Sind Sardinen denn nicht Salzwasserfische, die ausschließlich im Meer leben? Im Prinzip ja. Aber die Gardasee-Sardine macht da eine Ausnahme, und zwar weltweit die einzige.
Diese Tatsache wird auch dadurch nicht weniger erstaunlich, daß es sich bei diesem Fisch genaugenommen um eine Alosa fallax handelt, zu deutsch um eine falsche oder Pseudo-Alse. Denn erstens ist diese Alse mit den Sardinen eng verwandt, und zweitens lebt auch sie normalerweise nur im Salzwasser. Wie also kommt unsere sardella, die, um die Verwirrung komplett zu machen, in ausgewachsenem Zustand hier manchmal auch agona genannt wird – wie kommt dieser Fisch in den Gardasee?
Die sardella wurde hier nicht etwa ausgesetzt, was im übrigen ein für Mensch wie Fisch gleich frustrierendes Unterfangen wäre: einen Salzwasserfisch in einen Süßwassersee umzusiedeln. Sie hat sich auch nicht aus der Adria via Po und Mincio in den Gardasee gekämpft. Manche Sardinenarten schwimmen zwar tatsächlich in Flüsse, um dort zu laichen, aber anschließend schwimmen sie schleunigst zurück ins Meer, und ihre frischgeschlüpfte Brut tut es ihnen nach, eben weil sie im Süßwasser gar nicht überleben könnte. Das kann einzig und allein die Gardasee-Sardine, und sie kann es deswegen, weil sie niemals in den See kam, sondern bereits hier gelebt hat, als der See tatsächlich noch ein Teil des Meeres war.
Wir kommen, um das Geheimnis unserer Sardine endgültig aufzuklären, an dieser Stelle nicht um ein bißchen Geologie herum. Die Meeresvergangenheit des Gardasees verlief nämlich recht wechselhaft. Bis vor 70 Millionen Jahren war der größte Teil des heutigen Italien einschließlich des Gardaseegebiets von dem tropischen Urmeer Tethys bedeckt, aus dem sich später das (wesentlich kleinere) Mittelmeer entwickelte. Dann, im beginnenden Tertiär, schob sich die afrikanische Kontinentalplatte derart druckvoll auf die eurasische Platte, daß sich auf dieser die Erde in die Höhe faltete; so begann die Entstehung von Gebirgen wie zum Beispiel der Alpen, in deren Folge sich das Tethys zurückzog.
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