Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gebrauchsanweisung für den Gardasee

Gebrauchsanweisung für den Gardasee

Titel: Gebrauchsanweisung für den Gardasee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Stephan
Vom Netzwerk:
zu Venedig, wie übrigens fast der gesamte Gardasee selbst. Die einzige Ausnahme bildete das von den Mailändern besetzte Riva.
    Der immer neu aufflammende Streit der beiden Machtzentren Venedig und Mailand um die zwischen ihnen liegenden Gebiete Oberitaliens eskalierte in jenem Jahr, als die Venezianer Riva eroberten und die vom Geschlecht der Visconti regierten Mailänder Brescia zu belagern begannen. Weil die Viscontitruppen zugleich die Gebiete südlich des Sees in ihrer Hand hatten, waren sie in der Lage, den von Venedig nach Brescia geschickten Entsatztruppen den Weg zu versperren. Und da sie inzwischen in Riva eine eigene Gardaseeflotte gebaut und vom Stapel gelassen hatten, schien damit auf Dauer auch der Besitz des Gardasees für Venedig verloren.
    Die naheliegende Gegenmaßnahme, schnellstens auch eine venezianische Flotte auf den See zu schicken, mußte daran scheitern, daß die Mailänder die einzige Wasserverbindung im Süden des Sees, den Mincio, jederzeit zu sperren in der Lage waren. Für einen unterirdischen Kanal von der Etsch zum Gardasee hätten sie in dieser Situation mit Sicherheit sehr viel gegeben – aber an ein derartiges Projekt war zu jener Zeit nicht einmal zu denken. Unvorstellbar, ja wahnwitzig erschien den Venezianern allerdings auch das Unternehmen, das der aus Kreta stammende venezianische Offizier Nicolò Sorbolo statt dessen vorschlug. Sorbolos Plan nimmt sich auch aus heutiger Sicht noch höchst bizarr aus, bizarrer noch als der fast ein halbes Jahrtausend später von Brian Sweeney, genannt Fitzcarraldo, geplante Transport eines Passagierschiffs über einen brasilianischen Urwaldberg. Anders als Fitzcarraldo (dem Werner Herzog in seinem gleichnamigen Film ein Denkmal schuf) setzte sich Sorbolo nämlich in den Kopf, gleich eine ganze Flotte über die Berge in den Gardasee zu schaffen. Natürlich haben ihn die venezianischen Befehlshaber zunächst einmal ausgelacht; doch bald stellte sich heraus, daß sie keine andere Wahl hatten, wenn sie nicht Brescia und den Gardasee aufzugeben bereit waren.
    Quizfrage zwischendurch: In welchen Fluß mündet eigentlich die Etsch? In den Po? In den Tiber? In den Mincio? Oder in keinen von den dreien? Bitte riskieren Sie an dieser Stelle nicht die Publikumsfrage! Denn das Publikum, jedenfalls das deutsche, wird mit geschätzten 85 bis 95 Prozent auf den Po tippen. Doch das ist, ähnlich wie der »oben zwischen den Bergen« liegende Gardasee, wieder nur eine der geographischen Täuschungen, denen wir als notorische Kfz-Reisende unterliegen. Schließlich fährt jeder, der über die Brennerautobahn (oder über den Reschenpaß) in Richtung Süden unterwegs ist, zunächst stundenlang durch das Etschtal und überquert danach den Po. In welchen anderen Fluß sollte die Etsch also münden? Aber nichts da – richtig wäre die Antwort d gewesen. Denn die scheinbar kleine Etsch, die wir von der autostrada aus häufig nur als eine Art kräftigeren Gebirgsbach wahrnehmen, ist in Wahrheit nach dem Po Italiens zweitgrößter Fluß. Daß wir sie unterschätzen, liegt daran, daß sie die wenigen Kilometer zwischen Verona und dem Po nutzt, um unseren motorisierten Wahrnehmungsorganen ein Schnippchen zu schlagen, sich jäh nach links zu wenden und schließlich nicht in irgendeinen anderen Fluß, das wäre unter ihrer Würde, sondern direkt in die Adria zu münden.
    Im Mittelalter, wo die Flüsse als Transportwege eine weit wichtigere Rolle spielten als heute, war man sich der Bedeutung der Etsch sehr wohl bewußt. Ganz besonders galt das für die Venezianer; denn die Etschmündung liegt nahe bei Chioggia, und Chioggia wiederum (nebenbei gesagt: ein außerordentlich reizvolles, wie Venedig von zahlreichen Kanälen durchzogenes Städtchen) liegt am Südende der venezianischen Lagune.
    Damit war der größte Teil des Weges vorgezeichnet, den die zum Gardasee aufbrechenden sechs großen Galeeren, zwei Galeonen und 26 Kriegsbarken der venezianischen Flotte im Jahr 1439 einzuschlagen hatten: von Venedig nach Chioggia und in die Etsch, danach flußaufwärts über Verona nach Mori. Zwischen diesen beiden Städten lag und liegt die enge und strudelbewehrte Veroneser Klause – ein durchaus gefährliches Hindernis, aber nicht der Rede wert im Vergleich zu dem, das die Flotte bei Mori erwartete: die erst über Wiesen und Äcker, dann über steinige Bergpfade in den Loppiosee (der damals noch ein echter See war), anschließend über eine brüchige, bis dahin allenfalls für

Weitere Kostenlose Bücher