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Gebrauchsanweisung für den Gardasee

Gebrauchsanweisung für den Gardasee

Titel: Gebrauchsanweisung für den Gardasee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Stephan
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zwangsläufig zum Massentouristen?
    Gegen solche Befürchtungen hilft in unserem Fall schon ein Blick in die allernächste Umgebung. Die Terrassentische der kleinen Marmitte- Bar bieten Platz für 35, vielleicht 40 Leute, und in verkehrsstarken Zeiten kommen hier mehr als zweitausend Autos pro Stunde vorbei, mit geschätzten fünftausend Insassen. Rein rechnerisch also stehen die Chancen miserabel, an diesem Fleck überhaupt einen Tisch zu ergattern. In Wirklichkeit aber trifft man hier selten mehr als ein Dutzend Gäste. Und es hat mehr als einen Sommerabend gegeben, an dem wir ganz allein respektive, was ja noch schöner ist, allein zu zweit mit unserem Aperitif in diesem Amphitheater saßen und das Schauspiel des Sonnenuntergangs über dem See und den Brescianer Alpen genossen.
    Warum das so ist, können wir nicht erklären; es reicht uns zu wissen, daß es so ist. Ein wenig kennen wir die Sache vom Skilaufen auf vielbefahrenen Hängen: Auch da braucht es oft nicht mehr als 100 Meter Schrägfahrt von der Piste weg, um völlig allein in einer fast unberührten Winterlandschaft zu stehen.
    Mit anderen Worten, nichts ist verläßlicher als der Massentourismus: Die Plätze, an denen er vorbeirauscht, sind oft die allerschönsten – selbst dann, das lernt man am Gardasee, wenn die Massen ganz nah an ihnen vorüber brausen.
    Wir aber brausen jetzt erst einmal mit besagten Massen hinunter nach Torbole hinein – und ein paar Minuten später auch schon wieder aus Torbole heraus. Anders als Goethe, auf dessen Aufenthalt in Torbole die kleine Stadt bis heute stolz ist: »Heute habe ich an der Iphigenie gearbeitet, es ist im Angesichte des Sees gut vonstatten gegangen«, notierte der Dichter am 12. September 1786 in sein Reisebuch. Eben dieser Satz bildet heute auch die Inschrift des kleinen Säulenbrunnens an der piazza Vittorio Veneto. Nachempfinden läßt sich das nicht wirklich; denn ausgerechnet von diesem Platz aus ist der See nicht zu sehen. Doch auch wenn wir ihn sähen, wäre ein klassisches Theaterstück das letzte, zu dem uns der See heute inspirieren würde. Es sei denn, wir trügen uns mit dem revolutionären Gedanken, ein Surferdrama zu schreiben. Denn Goethe hin, Goethe her, Torbole gehört mittlerweile ausschließlich den Surfern, die an keinem Platz Europas so günstige Windverhältnisse vorfinden wie hier.
    Das Spannende dabei ist, daß die Gardaseewinde aus allen Himmelsrichtungen kommen, teils zu vorausberechenbaren Zeiten, teils aber auch sehr überraschend. Der wichtigste dieser Winde weht mittags von Süden her über den See; er setzt heftig und vor allem pünktlich um 13 Uhr ein, so pünktlich, daß man nach ihm die Uhr stellen kann – und eben deswegen wird er auch ora genannt: die Stunde. Der ora unmittelbar voraus geht die auch am Gardasee übliche Mittagsflaute: Zeit für die Surfer, schnell einen Happen zwischendurch einzuwerfen. Davor nämlich, vom frühen Morgen bis kurz vor zwölf, sind sie mit dem von den Bergen her einfallenden Nordwind beschäftigt, der hier gleich eine ganze Palette von Namen hat: tramontana, pelèr, sover oder ganz einfach nur vento. Kompliziert, und eben darum für Surfer reizvoll, wird die Sache aber erst durch die oft stark böigen Winde, die sich aus den Seitentälern des Gardaseebeckens in diesen geordneten Ablauf einmischen: der ponale aus dem von der Seespitze nach Westen hinaufziehenden Ledrotal, der vent da mut aus dem hoch über dem Westufer gelegenen Valvestino oder der bali, der seinen Namen vom Balino-Paß hat, der den im Norden des Gardasees liegenden Tennosee mit den Trientiner Tälern verbindet.
    Wann, wie und warum genau diese lokalen Winde wehen oder ausbleiben, ist auch für Fachleute schwer herauszufinden. Wir als blutige Laien mischen uns da gar nicht erst ein, überlassen Torbole endgültig den Surfern und wenden uns statt dessen nach Süden. Wobei wir, ob wir wollen oder nicht, nun doch wieder Goethes Spuren folgen: Zumindest bis Malcesine wird den Dichterfürsten keiner los. Allein das, finden wir, ist schon ein guter Grund, Malcesine so rasch wie möglich anzusteuern. Und auf dem Weg dorthin, den See stets zur Rechten, die von Steineichen, Pinien und Oliven bestandenen Abhänge des Monte Baldo zur Linken, ein paar Gedanken auf jenen Goethe-Kult zu verschwenden, der den oberen Teil des Gardasee-Ostufers so merkwürdig dominiert.
    Sehr wahrscheinlich handelt es sich dabei auch um ein Relikt aus den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts. Die

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