Gebrauchsanweisung für den Gardasee
akzeptiert werden möchte. Und wer wollte ihm seinen Ärger verdenken, wenn er feststellen muß, daß die meisten jener Nachbarn aus eben dem Land kommen und ihn an eben das Land erinnern, dessen Alltag er hier für ein paar Wochen, für ein paar Monate oder sogar für einen ganzen Lebensabend hinter sich zu lassen versucht?
Gewiß spürt man die Angst der Deutschen vor den Deutschen nicht nur am Gardasee, sondern überall auf der Welt. Aber in kaum einer Region begegnet man ihr so häufig wie hier – eben weil sich hier so viele Deutsche aufhalten. Längst haben sie sich auch an den Hängen oberhalb der Seeufer festgesetzt. Um ihnen wenigstens da zu entgehen, wo sie sich in Pulks aufhalten, muß man sich als Tourist wie als Zweitwohnungssuchender noch eine oder zwei Etagen höher hinaufbegeben – und, auch wenn es noch so sehr schmerzt, man muß womöglich auf den direkten Seeblick verzichten. Denn noch für die abgelegensten Hochtäler und Bergkuppen gilt: Wo immer man von ihren Abhängen aus auf den Gardasee sehen kann, herrscht Feriensiedlungsalarm.
Nachprüfen läßt sich das am einfachsten von unten aus, zum Beispiel bei einem Cappuccino oder einem Aperitif auf der Seeterrasse des in einem wunderschönen Gebäude aus dem 15. Jahrhundert untergebrachten Hotelrestaurants Gardesana am Hafen von Torri del Benaco. Einst war dieses Haus der Amtssitz des Capitano del Lago; so lautete der offizielle Titel des Regenten der kleinen Gardaseerepublik Gardesana dell’Acqua, die die Venezianer gründeten, nachdem sie im 15. Jahrhundert den See und seine Ufergemeinden endgültig erobert hatten – die Seeschlacht von Riva, Sie erinnern sich.
Wer heute vom Hotel Gardesana aus auf die oberhalb der westlichen Uferorte Limone, Campione und Gargnano gelegenen Hochplateaus hinüberblickt, wird zu seiner Verblüffung den Eindruck haben, daß sich dort oben zwischen den Bergen bemerkenswert große Dörfer breitmachen, von denen er erstens noch niemals etwas gehört hat und die zudem, was die Verwirrung komplett macht, auf keiner Karte verzeichnet stehen. Und von weitem gesehen, nehmen sich diese Bergsiedlungen sogar recht hübsch aus, ja fast pittoresk, mit ihren vor dem Hintergrund von Almwiesen und Hochwäldern weiß leuchtenden Baukastenhäusern – oder nachts mit ihren vielen Lichtern, die gleich Sternenhaufen von dort droben über den See schimmern. Nur merkwürdig eben, daß diese Orte offenbar gar keine Namen haben.
O doch, sie haben Namen, und wer genau hinschaut, findet diese Namen sogar auf seiner Landkarte. Apropos Landkarte: Mit Ihrem Autoatlas werden Sie hier nicht sehr weit kommen; wenn Sie vom Gardasee und von seiner Umgebung etwas haben wollen, kaufen Sie sich eine Wanderkarte im Maßstab 1:100000 oder, besser noch, 1:50000. Vor manchen Überraschungen schützen einen allerdings auch diese Karten nicht. Wie eben vor der, daß man dort, wo man vom Kartenbild her allenfalls den abgelegenen Teil eines winzigen Bergweilers oder gar nur ein paar versprengte Hütten erwartet, auf stattliche – nein, eben nicht Dörfer, sondern Ferienhaussiedlungen stößt.
Die prosaische Wahrheit hätte man freilich schon aus der Ferne ahnen können, auf dem Weg des Umkehrschlusses: Alle Orte, alle Häuser, die man vom See aus sehen kann, sind ja eben deswegen auch Plätze mit Blick auf den See, also ideale Standorte zum Bau von Ferienwohnungen aller Art – und zur Landschaftsverschandelung. Immer wieder trifft man auf Almwiesen, an Berghängen und anderen Stellen hoch über dem Gardasee, zu denen vor 50 Jahren noch nicht einmal ein Karrenweg hinführte, auf mehr oder weniger lieblos in die Landschaft betonierte Appartementblöcke oder gar auf ganze Wohnanlagen, die alle miteinander eins gemeinsam haben: Balkone oder Aussichtsterrassen mit Seeblick.
Nicht einmal an Tremosine, der schönsten aller Hochebenen über dem Westufer des Gardasees, und am benachbarten Gemeindegebiet von Tignale, ist dieser Bauboom vorübergegangen. So sind einige der insgesamt siebzehn Einzelgemeinden Tremosines derart mit Ferienbehausungen zugebaut, daß sich ihre ursprüngliche Dorfstruktur kaum noch erkennen läßt. Und eine von ihnen, das hoch über Limone gelegene Bazzanega (im lokalen Sprachgebrauch auch Bassanega genannt), ist sogar eine komplett künstliche Siedlung, zusammengefügt aus Hotels, Appartementkomplexen, Bungalowsiedlungen, Swimmingpools und einer ganzen Reihe von Tennisplätzen.
Bevor man da freilich empört die Nase rümpft,
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