Gebrauchsanweisung für den Gardasee
sechs Jahren dann zog die Kleine hinunter ins Dorf, nach Sermerio, zu ihrer Großmutter, um die Schule besuchen zu können. Doch dabei ist es ihr so ergangen wie dem Geißenpeter in Johanna Spyris »Heidi«: Besonders viel Spaß hat ihr die Schule nicht gemacht. Jeden Sonntag rannte sie wieder hinauf auf die Alm ihres Vaters (zum Glück damals noch die Malga Negrini, die sehr viel niedriger liegt als die Malga Lorina), um die kleinen Ziegen zu füttern. Und als der Vater im Jahr darauf krank wurde, war Natalina alles andere als traurig, daß ihre Eltern – Not kennt kein Gebot – das Schuljahr eigenmächtig auf die drei Monate zwischen Dreikönig und Anfang April zusammenstrichen.
Zum Mitrechnen: Wir befinden uns im Jahr 1945, drunten in der Welt ist gerade der Zweite Weltkrieg zu Ende gegangen. Die siebenjährige Natalina weiß davon nichts; sie arbeitet jetzt als Vollzeitkraft auf der elterlichen Alm, melkt das Vieh, mistet die Ställe aus, wäscht die Wäsche und ist dazwischen immer wieder mit einem prall gefüllten Rucksack zwischen dem Dorf Sermerio und der Malga Negrini unterwegs. Vom Dorf herauf schleppt sie Proviant – Brot, Salz und andere karge Grundnahrungsmittel, und hinunter trägt sie immer wieder Käselaibe.
Der Käse, der formaggio oder, ganz korrekt, die formaggella di Tremosine, ist neben der Milch bis heute das bekannteste Produkt, das auf dieser Hochebene erzeugt wird. In allen Läden und an allen Supermarkttheken rings um den Gardasee kann man es kaufen. Gegessen wird der immer aus frisch gemolkener Vollmilch hergestellte und mit kleinen Löchern durchsetzte Tremosine-Käse meist im jungen Stadium, wenn seine Konsistenz noch weich, fast cremig ist – und sein typisches, sehr delikates Bergkäsearoma tatsächlich an den Duft von Almwiesen erinnert. Seine feine Säure wie seine ausgesprochen gute Bekömmlichkeit erhält er dadurch, daß er bis zum Erreichen seiner Gerinnungstemperatur vorsichtig erwärmt und dann seinem natürlichen Reifeprozeß überlassen wird.
Bei den Arrighinis war ausschließlich die Mutter für die Zubereitung der formaggetta zuständig. Die fertigen Laibe wickelte sie in große Ahornblätter, bevor sie oder ihre Tochter Natalina sie hinunter in den Dorfladen brachten, um sie dort gegen andere Produkte zu tauschen.
Als Natalina 15 Jahre alt geworden war, starb ihr Vater. Die Familie, die nicht mehr wußte, wie sie auskommen sollte, schickte das Mädchen nach Mailand, einmal in eine Stellung als Dienstmädchen, einmal als Arbeiterin in einem Betrieb. Man schrieb das Jahr 1953, auch Italien begann sich allmählich von den Nöten der Kriegs- und Nachkriegszeit zu erholen. Vor allem das wieder florierende Leben und die Arbeitsmöglichkeiten in den Städten brachten damals Zehntausende junger Leute dazu, ihre Heimatdörfer zu verlassen. Auch die Gemeinden von Tremosine erlebten damals eine große Auswanderungswelle, verständlicherweise: Die Bergbauernbetriebe, die zu dieser Zeit endgültig in Nachteil gegenüber der sich immer weiter rationalisierten Agrarwirtschaft drunten in den Ebenen gerieten, waren schlicht nicht mehr in der Lage, sie zu ernähren. Und vom Fremdenverkehr, der mittlerweile die Haupterwerbsquelle Tremosines darstellt, war hier oben weit und breit noch nichts zu bemerken.
Natalina aber scherte sich um all das nicht. Beide Male, nachdem sie fortgeschickt wurde, hielt sie es nicht länger als zwei Wochen in Mailand aus; das Leben, die Arbeit in der Stadt waren ihr zuwider. Lieber als das ertragen, sagt sie noch heute, habe sie ein Leben lang patüs suchen wollen – patüs ist das Dialektwort für das Laub, das man den Kühen in den Stall streut. Weil Natalina aber auch unter noch so kargen Bedingungen nicht vom patüs-Sammeln leben konnte, entschloß sie sich, den Mann zu heiraten, der nach dem Tode ihres Vaters dessen Vieh gekauft hatte. Bald darauf bekam sie ein Kind, das sie bereits nach zwei Monaten der nonna, ihrer Großmutter, in Pflege geben mußte. Weil die Almwirtschaft für den Unterhalt der Familie nicht ausreichte, blieb ihrem Mann nichts übrig als sich im Tal Arbeit zu suchen und die Sorge fürs Vieh allein seiner Frau zu überlassen. Doch ein paar Jahre später mußte die sich, um die Familie durchzubringen, auch ihrerseits nach einer »Nebentätigkeit« umsehen. Der nächstgelegene Platz, der dafür in Frage kam, war die Baumwollfabrik in Campione – dem einzigen direkt am Seeufer gelegenen Ort des Gemeindeverbunds von Tremosine.
Der
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