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Gebrauchsanweisung für den Gardasee

Gebrauchsanweisung für den Gardasee

Titel: Gebrauchsanweisung für den Gardasee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Stephan
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sollte man sich zweierlei klarmachen. Erstens, mit solchen Siedlungen verhält es sich wie mit allen scheußlichen Bauwerken auch: Sobald man erst einmal drin ist, stört einen der Anblick nicht mehr, den sie von außen bieten. Und zweitens, wer wollte es den bis dahin meist bettelarmen Berggemeinden verargen, daß sie den Feriensiedlungsbau mit Grundstücksverkäufen und Baugenehmigung förderten, um auf diese Weise auch vom Gardaseetourismus zu profitieren?
    Mittlerweile, und das ist die gute Nachricht, haben sich die lokalen Politiker ohnedies eines Besseren besonnen. Baugenehmigungen, auch für Einzelobjekte, die gerade in den Regionen oberhalb des Sees noch bis in die 8oer Jahre des letzten Jahrhunderts fast zu Schleuderpreisen vergeben wurden, sind heute echte Mangelware geworden – und an die Errichtung neuer Appartementsiedlungen denkt erst recht keiner mehr. Überhaupt sind es erfreulicherweise die kleinen Berggemeinden oberhalb des Gardasees, von denen die in den letzten Jahren zu beobachtende Trendwende am Gardasee ausgegangen ist. Ihnen haben sich inzwischen auch viele Ufergemeinden angeschlossen. So haben auch und gerade die im Gemeindeverbund von Tremosine zusammengeschlossenen Orte begriffen, daß nur der Verzicht auf den Massentourismus wie auf exzessive Bebauung die Chance bietet, das größte Kapital der Region, nämlich ihre einmalige Natur- und Kulturlandschaft auch weiterhin gewinnbringend zu nutzen.
    Klasse statt Masse heißt also kurz gesagt die neue Fremdenverkehrsdevise am und über dem See. Deswegen nun gleich zu erwarten, daß der Gardasee alsbald wieder das werden wird, was er vor 130 Jahren einmal war, also ein Luxus-Ferienziel für die oberen Zehntausend, wäre dennoch stark übertrieben. Die großen alten Zeiten der Luftkurorte Riva und Gardone Riviera werden nicht zurückkommen. Und wer Wert auf vollen Rund-um-die-Uhr-Service in perfekten, mit edlen Mehrsterne-Restaurants und noch edleren Wellnessbereichen ausgestatteten Relax-Stationen legt, wird in der Regel auch in Zukunft anderswo besser aufgehoben sein als hier.
     
    Individualtourismus ist eben längst – und gottlob – nicht mehr das gleiche wie Luxustourismus. Oder besser gesagt: Der wahre Luxus, auch der einer Ferienlandschaft, liegt heute gerade in ihrer besonderen Eigenart und in unserer Bereitschaft, uns auf sie einzulassen. In diesem Sinn lassen wir nun Freizeitkomplexe wie den von Bazzanega hinter uns, vergessen sämtliche Zweitwohnungen und -häuser, gegebenenfalls sogar unsere eigenen, und begeben uns auf eine ganz private Entdeckungsreise durch die Hochebene von Tremosine.
 

10. Tremosine
oder Die alte Welt
     
     
     
    Fortgeschrittene Mountainbiker kennen sie womöglich vom Vorbeifahren, die Malga Lorina: Sie liegt direkt an einer Schotterpiste, die vom Gardasee über die Berge von Tremosine hinauf auf das beliebteste Bikerziel der Region, den Tremalzo, führt. Malga ist das italienische Wort für eine Hochalm. Doch wer da nun – man kennt das ja schließlich aus unzähligen Heimatfilmen – ein schmuckes Hüttlein mit schindelgedecktem Dach und womöglich grünen Fensterläden erwartet, dürfte beim Anblick der Malga Lorina eine herbe Enttäuschung erleben. Ein lieblos graugelb verputztes, zudem klobiges Steinhaus, dicht daneben ein nur wenig niedrigeres, aus gleichem Stein gemauertes Stallgebäude – das ist alles.
    Man sieht es der Alm bis heute noch an: Die Leute aus Cadignano, Pregasio und anderen Tremosine-Dörfern, die ihr Vieh schon vor Jahrhunderten im Sommer hier hinauftrieben, hatten weiß Gott andere Sorgen als sich ums malerische Erscheinungsbild ihrer Almhütten zu kümmern. Erst recht galt das, und zwar bis weit hinein ins 20. Jahrhundert, für die, die das Vieh hüteten, die Sennerinnen und Senner – wie zum Beispiel für Natalina Arrighini Ghidotti. 66 Jahre alt ist Natalina mittlerweile; aber wer sie von diesen 66 Jahren erzählen hört, glaubt sich in lange zurückliegende Jahrhunderte versetzt.
    Geboren worden, sagt Natalina lachend, sei sie 1938 in Pregasio, und zwar »mit einem Zicklein auf dem Arm«. Das ist keine Übertreibung, sondern allenfalls ein bißchen Poesie, aus der allerdings bald harte Realität werden sollte: Als Natalina fünf Jahre alt war, amtierte sie bereits als Viehhüterin. Und: Sie konnte den familieneigenen Wecker ablesen. Das war wichtig; denn jeden Morgen um vier mußte sie ihre kleine Herde – zwei Kühe, ein Rind und drei Schafe – auf die Weide führen. Mit

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