Gebrauchsanweisung für den Gardasee
abenteuerliche, wenn auch mittlerweile gut gesicherte Weg von Campione zur kleinen Malga Pom de Pi oberhalb von Sermerio, auf der Natalina damals arbeitete, gilt heute (allerdings nur für trittsichere Wanderer!) als landschaftlich besonders eindrucksvolle Route: Er führt zunächst an Wasserfällen entlang durch eine steil zum See hin abfallende Schlucht und dann über die Hänge des San-Michele-Tals unterhalb und oberhalb von Pregasio – und er nimmt an die zweieinhalb Gehstunden in Anspruch. Natalina freilich brauchte diesen Weg nicht zu gehen. Da die Spinnereifabrik von Campione viele ihrer Arbeitskräfte aus den abgelegenen Dörfern des Tremosine rekrutierte, fuhren jeden Morgen und jeden Abend Busse von der Hochebene nach Campione und zurück.
Bis 1981, als die Fabrik von Campione ihre Pforten schloss, und während sich drunten am See die Wohlstandstouristen längst in hellen Scharen tummelten und dabei auch ihren Gastgebern zu einem nie gekannten Lebensstandard verhalfen, empfand Natalina diesen Bus als eine Art Luxus: Um ihn rechtzeitig, nämlich täglich um fünf Uhr zu erreichen, genügte es ja, wenn sie um zwei Uhr nachts aufstand, die Tiere fütterte, den Stall besorgte und dann von der Alm zur Bushaltestelle hinunterrannte. Und nachdem sie den ganzen Tag gearbeitet hatte, war sie kurz nach sieben Uhr abends wieder zurück auf der Alm, um sich erneut ums Vieh zu kümmern, und um die Arbeit, die außerdem auf sie wartete. Bis 1981!
Immerhin, Natalina erhielt nach der Schließung der Fabrik Arbeitslosengeld. Sie hätte sich Kleider dafür kaufen können, oder ein paar einfache Geräte, um sich ihre Tätigkeiten im Stall und in der Küche damit zu erleichtern. Nicht Natalina! Sie kaufte Ziegen für das Geld, dreizehn Ziegen mit, wie sie noch heute stolz berichtet, »seidig glänzendem Fell« – und zog schließlich von 1989 an mit ihren Tieren jeden Sommer – von Mitte Mai bis Anfang November – auf die mehr als 1500 Meter hoch gelegene Malga Lorina, wo ihr Arbeitstag bis heute, bis ins Jahr 2004, um halb sechs Uhr früh beginnt und oft erst kurz vor Mitternacht endet.
Sie habe doch ein schönes Leben bisher gehabt, sagt Natalina. Und wenn sie dabei lächelt, geschieht das nicht aus Ironie. Natalina lächelt, weil sie stolz ist auf ihr Leben, und stolz darauf, sich selbst treu geblieben zu sein. Und vielleicht lächelt sie auch deshalb, weil sie ahnt, wie unglaublich es für uns klingt, daß dieses Leben sich sozusagen vor unseren Augen abgespielt hat und bis heute abspielt. Dennoch, es ist nicht nur ein Stück der wahren Geschichte, sondern auch und immer noch ein Stück Gegenwart dieser Region, der wir in dieser Erzählung begegnen. Ein Stück, darauf kommt es an – und nicht das Ganze. Wollten wir behaupten, die Biographie der Natalina Arrighini Ghidotti sei bis heute repräsentativ oder auch nur typisch für das Leben der Leute in Tremosine, würden wir dieses Stück Wahrheit letzten Endes zum Folklorekitsch umfälschen.
Eher schon trauen wir uns, eine andere Frau als Repräsentantin Tremosines zu bezeichnen, auch wenn sie gar nicht hier oben und auch nicht am Gardasee geboren wurde. Oder, richtiger gesagt: Gerade weil sie nicht hier geboren wurde; auch das Zugewandertsein – wir haben das schon erklärt – ist ja zumindest kein untypisches Merkmal der Menschen, die hier wohnen. Wir sprechen von Clara Pilotti Delaini, der Frau, ohne die wir nie etwas vom Alm- und Arbeitsleben Natalinas erfahren hätten. Clara Pilotti ist vielleicht die engagierteste, aber bei weitem nicht die einzige Heimatforscherin im heutigen Tremosine. Unterstützt bei ihren Forschungen hat sie Don Gabriele Scalmana, der nicht nur Pfarrer in Tremosine ist, sondern sich auch, wie übrigens schon sein Vorgänger, Don Giacomo Zanini, mit ebenso großer Hartnäckigkeit wie Leidenschaft darum bemüht, Geschichte und Eigenart seiner Gemeinde zu dokumentieren. Doch damit nicht genug – als Interpret des christlichen Existentialisten und Utopikers Teilhard de Chardin hat sich Don Gabriele auch bei Theologen und Philosophen einen guten Namen gemacht.
Der Pfarrer als Dorfchronist: das hört sich schon fast wie ein Klischee aus der guten alten Zeit an. Doch mit konservativem Traditionalismus haben Don Gabriele, Clara Pilotti und ihre Freunde nicht das geringste im Sinn. Sie haben vielmehr bewundernswert genau erkannt, daß herkömmliche Traditionspflege allein – oder gar das, was sich Fremdenverkehrsmanager unter Traditionspflege
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