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Gebrauchsanweisung fuer Indien

Titel: Gebrauchsanweisung fuer Indien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilija Trojanow
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festgelegte Lehre von Brahma‹, veröffentlicht im Jahre 628 unserer Zeitrechnung), wurde 771 ins Arabische übersetzt und in Bagdad verlegt und beeinflußte maßgeblich die islamische Mathematik und Astronomie, wodurch indirekt dieser Gelehrte aus Rajasthan zu einem der Ahnherren der europäischen Wissenschaft wurde. Auf diesem Weg gelangte auch das indische Zahlen- und Dezimalsystem nach Europa. Der berühmte Mathematiker Alberuni, der aus Zentralasien stammte und mit den allerersten einfallenden islamischen Truppen, jenen von Mahmud von Ghazni, nach Indien kam, schrieb eine Geschichte Indiens, in der er voller Hochachtung eine beachtliche Zahl von Sanskrit-Texten über die Naturwissenschaften, aber auch über Literatur, Philosophie und Religion wiedergab und reflektierte. Anfang des zweiten Jahrtausends widmete sich eine Vielzahl von arabisch schreibenden Gelehrten der indischen Geistestradition. Auf der anderen Seite übersetzten Brahmanen aus der Metropole der Bildung Taxila im Auftrag von Mahmud Ghazni heilige islamische Texte und erlaubten es sich erstaunlicherweise, Mohammed als Avatar (wiederholtes Erscheinen eines Gottes auf Erden in unterschiedlicher Form) darzustellen, denn es gibt in Sanskrit keine Entsprechung für Prophet. Diese Einbürgerung des Propheten in die demokratischere Welt der hinduistischen Götter hat sich bis zum heutigen Tag gehalten. Manche Texte der Bohras, einer in Westindien beheimateten Shia-Gemeinde, bezeichnen Mohammed weiterhin als Avatar des Hindu-Gottes Vishnu.

    In dem berühmten Film von Richard Attenborough sitzt Gandhi alias Ben Kingsley auf einer Uferbalustrade in seiner Heimatstadt Porbander und erzählt dem amerikanischen Journalisten Walker: »Meine Familie gehörte der Pranami-Sekte an, Hindu natürlich. Aber in unserem Tempel pflegte der Priester aus dem islamischen Koran sowie aus der hinduistischen Gita zu lesen, von dem einen zum anderen wechselnd, so als wäre es bedeutungslos, aus welchem Buch gelesen wird, solange Gott angebetet wurde.«
    In der offiziellen Hagiographie wird diese religiöse Konditionierung Gandhis meist unterschlagen. Es wird herausgestellt, daß er sein Leben lang für das friedliche Zusammenleben der Glaubensgemeinschaften plädierte und die Auffassung vertrat, hinter jedem Kult verberge sich die eine, die einzige göttliche Kraft. Manchmal klingt es so, als habe er diese Toleranz erfunden, dabei steht er in einer langen indischen Tradition der Vermischung zwischen den Religionen. Weit von Gandhis Gujarat entfernt strömt der Ganges durch Nordindien. Dieser Strom, der die religiösen Vorstellungen der Hindus durchfließt, war zentraler Schauplatz der nunmehr tausendjährigen Geschichte von Konfrontation und Begegnung zwischen Hindus und Moslems. Auf halbem Weg zwischen Quelle und Mündung befindet sich die Millionenstadt Allahabad, offensichtlich benannt nach dem arabischen Wort für Gott. Vor den Toren der Stadt liegt der Sangam, der Zusammenfluß der zwei heiligsten Flüsse des hinduistischen Indiens, des Ganges und des Jamuna. Hier wird alle zwölf Jahre das größte Fest der Menschheit, die Kumbh Mela, gefeiert, wie kein zweites Symbol für die Kraft und Vielfalt des Glaubens. Eines Abends, nach einem ausgiebigen Spaziergang durch die schier endlosen Zeltreihen, lockten mich unerwartete Klänge zu einem offenen Zelt. Etwa zwanzig Sadhus saßen auf dem Boden und hörten inbrünstig drei Sängern zu, die von den raspelnden Klängen der Doppeltrommel Tabla und von der Melodiestütze eines Harmoniums begleitet wurden. Einer der Sadhus winkte mir zu, ich möge mich zu ihnen gesellen. Aber, platzte es am Ende des Liedes aus mir heraus, das war doch ein Qawwali (eine ekstatische Gesangsform, die von islamischen Sufis gepflegt wird). Ja, ja, erwiderten die Sadhus erfreut. Wieso hören Sie Qawwali? Wieso? Die Sadhus waren verwundert. Weil es uns Gott näher bringt! Es war etwa so, als würden Benediktinermönche zum Gebet gelegentlich tantrische Mantras verwenden.
    Das Heterodoxe und das Hybride haben in Indien eine lange Tradition. Man könnte behaupten, sie seien das herausragende Merkmal dieses Landes, das ansonsten kaum auf einen Nenner zu bringen ist. Schon der Begriff ›Hinduismus‹, der sich der kolonialen Sprachregelung verdankt – Hindus sind diejenigen, die hinter dem Indus-Fluß leben, eine Nomenklatur, die nicht von den Indern selbst stammen kann –, behauptet eine zu keiner Zeit existente Einheitlichkeit. Das ›sanatan dharma‹

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