Gebrauchsanweisung fuer Indien
nicht nur ein Ausdruck von Lebensfreude, sondern auch theologisch folgerichtig. Getreu dem Motto: Was den Göttern recht ist, darf den Menschen billig sein. Das Vollmondfest Kartik Poornima ist ein gutes Beispiel. Es wird im November gefeiert, vier Tage nach dem Erwachen der Götter aus ihrem viermonatigen Sommerschlaf (ja, auch die Götter müssen sich zwischendurch ausruhen). Hunderttausende Pilger aus dem ganzen Land strömen nach Pushkar in Rajasthan und reinigen sich in dem winzigen See des Städtchens von ihren Sünden. Gleichzeitig findet die Pushkar Mela statt, die größte Kamelmesse der Welt. Auf weitläufigen Dünen campieren Viehhüter mit ihren Tieren. Sie bilden einen gewaltigen Marktplatz, auf dem von Sonnenaufgang bis in die Nacht hinein eifrig gehandelt wird. Mal werden die Kamele, die meist in kleinen Gruppen zusammenstehen, zur Tränke geführt, mal gefüttert, ansonsten liegen oder sitzen die Männer im Schatten der Buckel, rauchen, trinken süßen Milchtee und werfen nebensächlich ihre Angebote auf den Sand. Am Ende der Mela zieht das Kamel mit einem neuen Herrn weiter.
Daneben scheppern überforderte Lautsprecher um die Wette, drehen sich rostige Riesenräder, flimmern visionäre Roboter, tanzen ungelenke Transsexuelle zu zerkratzten Rhythmen. Fliegende Händler, Barbiere, Quacksalber, Kamelschmuck-Juweliere und wandernde Sänger vervollständigen das Bild. Und mittendrin stolpert man zwischen Ständen und Lautsprechern auf einen Schlafenden. Pushkar im November ist ein lauter und etwas unübersichtlicher Schnellkurs in Sachen Tamasha. Das Profane vermischt sich mit dem Heiligen, das Urzeitliche mit dem Modernen, die Stille mit der Kakophonie. Bei Vollmond nehmen die Gläubigen zum günstigsten aller Zeitpunkte ihre rituellen Waschungen vor. Wenn die Farben sich zurückziehen, schimmert der See wie ein unergründliches Versprechen, läuft über einer riesigen Leuchttafel weiterhin eine rote Neonschrift, die alle auffordert, den See nicht zu verschmutzen. Ein administratives Wort in Gottes Ohr, das auf blinde Pilgeraugen fällt.
Es gibt wenige Sachen, die man in seinem Leben unbedingt gemacht haben sollte: etwa einen Baum pflanzen, einen Berg besteigen, einer alten Frau über die Straße helfen. Und: in einem Bollywood-Film mitspielen. Auch wenn man – so wie ich – gezwungen war, einen Nazi-Botschafter mit abscheulichem teutonischen Akzent zu mimen. Trotzdem, es war ein Erlebnis, in einen alten Anzug zu schlüpfen, die Haare auf Seitenscheitel gebürstet und glatt gegelt, und in einem brütend heißen Studio mit dem Hauptdarsteller eine Szene zu spielen, die 1942 in Kabul spielen sollte. Es war aufregend, von dem legendären Regisseur Shyam Benegal in Szene gesetzt zu werden, in einer ehemaligen Villa auf einem Hügel im Norden Bombays, von emsigen Hundertschaften bedient, während wir die kurze Szene Mal um Mal wiederholten, so als seien die Kameras begriffsstutzige Schüler. Vor allem aber war es erregend, einmal die Innenwelt von Bollywood kennenzulernen, der bedeutendsten Mythenfabrik der östlichen Hemisphäre. Nirgendwo sonst wird Tamasha so konsequent und perfekt inszeniert wie in der Filmindustrie Bombays.
Ja, man könnte sich zu der Aussage versteigen, der enorme Erfolg der Bollywood-Filme hänge mit dem Urvertrauen der Verantwortlichen in das poetologische Prinzip von Tamasha zusammen. Bollywood glaubt tatsächlich an die althergebrachte Vielfalt an Formen, die sich bis auf das ›Natyashastra‹ zurückverfolgen läßt, jenes klassische Sanskrit-Handbuch des Dramas, in dem Tänze und Lieder und Klamauk als essentieller Teil jeder Erzählung vorgeschrieben werden – eine Mischung aus Richard Wagner und Hape Kerkeling mit einem Schuß Kessler-Zwillinge. Diese Einschübe funktionieren als lyrische beziehungsweise komische Ebene, auf der die Spannung der Handlung eingefroren wird, um danach um so intensiver wahrgenommen zu werden – wie ein Sorbet zwischen den Gängen. Auch das populäre Theater, vor allem natürlich jenes Vaudeville mit dem uns nunmehr wohlvertrauten Namen ›Tamasha‹ operiert ähnlich mit den altbewährten Mitteln. In diesem burlesk-satirischen Singspiel findet sich das Nebeneinander von Erhabenem und Profanem, Delikatem und Vulgärem, das den Charakter der Bollywood-Filme ausmacht.
Das Tamasha-Theater des 19. Jahrhunderts war in mancherlei Hinsicht bahnbrechend. Während im indischen Volkstheater bis dahin alle Hauptrollen von Männern bekleidet worden
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