Gebrauchsanweisung fuer Indien
außergewöhnlichen Menschen gelingt, Moksha direkt zu erreichen, die Erlösung von den Fesseln des Lebens und der Wiedergeburt, der Rest der Menschheit muß hingegen zunächst materiell abgesichert sein, um sich auf die Suche nach spiritueller Erhöhung begeben zu können.
Das vorbildliche Leben wird in vier Phasen aufgeteilt. Auf den Abschnitt der Brahmacharya Ashrama, der Jahre des Lernens, folgt die Phase der Gruhasta, in der jeder einzelne die Aufgaben eines Haushalters möglichst gut erfüllen sollte. In diesem Lebensabschnitt ist Artha nicht nur ein Mittel zum Zweck, sondern eine religiös sanktionierte Notwendigkeit. Erst wenn man seine Familie versorgt weiß und auch seine Pflichten im Beruf erfüllt hat, kann man zur dritten Stufe übergehen, der Vanaprasta Ashrama – das (Über)Leben im Wald. In dieser Übergangszeit bereitet man sich auf die letzte Phase des Lebens vor. Einen Teil seiner Zeit verbringt man in Einsamkeit und löst sich somit allmählich von den irdischen Bindungen ab, bevor man der materiellen Welt endgültig den Rücken zuwendet, Sannyasi Ashrama, und zum Einsiedler wird. In den Smruti- Texten , wie etwa den Gesetzen Manus, werden diese Lebensphasen, die zur Entstehung eines vollständigen Menschen führen, ausgiebig beschrieben, mit allen Regeln, Pflichten und Segnungen. Und im achten Kapitel des ›Manu Smruti‹ wird gesagt: »Die wichtigste Reinheit ist die Reinheit des Vermögens.«
Madhureeta Mukherjee, eine Werbetexterin, die zusammen mit ihren Eltern in einer Zweizimmerwohnung lebt, erzählt, daß ihr Vater eine Waschmaschine erst dann kaufte, als die Putzfrau, die seit Jahrzehnten für die Familie gearbeitet hatte, sie von einem Tag auf den anderen verließ. »Er hatte gar keine andere Wahl, als schnell eine Waschmaschine zu kaufen, denn meine Mutter arbeitete den ganzen Tag, und ich ging zur Schule. Doch neuerdings benutzen wir die Waschmaschine nur für Bettwäsche, Handtücher und andere schwere Sachen. Wir haben wieder eine Putzfrau, und sie macht nicht nur sauber, sondern sie wäscht auch unsere Kleidung.«
Der letzte Maharaja von Udaipur hatte zwei Söhne, die sich seit Jahrzehnten vor Gericht streiten, weil eine Unterschrift unter dem Testament vergessen worden sein soll. Dabei könnte keiner behaupten, daß es den zwei jüngsten Sprossen dieses Geschlechts, erstes unter den göttlichen Maharajas, die direkt von der Sonne oder dem Mond abstammen, an irgend etwas mangelt: Ihr Palast ist der größte private Palast in Indien; auch der Pichola-See, das Lake Palace Hotel und zwei weitere, in der Palastanlage untergebrachte Hotels, gehören ihnen. Doch sie streiten sich, eifrig, bissig, giftig, und der Palast verkommt. Der ältere Sohn zieht London und Bombay vor, nur einmal im Jahr verirrt er sich für drei Monate heim nach Udaipur. Vielleicht um seine Hand auf die Summen zu legen, die der Palast auch in seiner Abwesenheit einfahrt – täglich etwa achtzigtausend Euro.
Der Rundgang durch den Palast ist ein Flanieren durch perversen Reichtum. Doch sozialkritische Überlegungen, welche Kluft zwischen den goldenen Ornamenten, den kunstvollen Steinmetzarbeiten, den satten Stoffen und den unzähligen Räumen auf der einen Seite und dem Leben der Untertanen auf der anderen Seite jenseits der Palastmauern – früher wie auch heute – klafft, scheinen nur den europäischen Besucher zu belästigen. Beim Hinausgehen kommt mir eine Gruppe ärmlich gekleideter Bauern entgegen, allesamt barfuß, da sie am Eingang des herrschaftlichen Mahal selbstverständlich die Schuhe ausgezogen haben, auf ihrem Kopf der mit Stolz getragene Turban und um ihren Körper der alltägliche Dhoti. Sie gehen langsam die Treppen hinauf und streichen mit ihren Händen verzaubert über die englischen Kacheln an der Wand. Sie stoßen spitze kurze Schreie der Bewunderung aus in dieser ihnen gar unbekannten, fremden Welt.
Das Leben der dreiundneunzigjährigen Sulchana Chogle ist eng mit ihrem steinernen Haus verbunden, unter dessen tiefgeneigtem Dach etwa fünfundsiebzig Familienmitglieder wohnen. Sulchana Chogle hat die technische Entwicklung des 20. Jahrhunderts miterlebt. Sie erinnert sich noch an den elektrischen Anschluß im Jahre 1930. Davor kochte sie für die ganze Großfamilie auf einem traditionellen Ofen. Die erste Erwerbung war ein Grammophon, eine Anschaffung, die sie als Fest empfand. 1955 kam ein Gaskocher, 1963 ein Mixer hinzu. Es faszinierte sie, was ein einziger Knopfdruck ihr alles
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