Gebrauchsanweisung fuer Indien
eine Chance, von einer der führenden Institutionen aufgenommen zu werden. Das bedeutet viel Nachhilfe, was wiederum auf den Geldbeutel schlägt. Ausbildung hat in Indien Vorrang. Daran wird sich angesichts der katastrophalen Lage an den staatlichen Schulen in nächster Zeit wenig ändern. Doch die Tochter, Gita Patel, guckt am liebsten fern, was wohl erklärt, wieso sie den neuen Farbfernseher ihrer Eltern mehr zu würdigen weiß als die angesehene Schule, die sie besuchen darf. Fernsehen bedeutet für sie das indische MTV, das den ganzen Tag lang süß-seifige Ausschnitte aus Hindi-Filmen zeigt, voller inbrünstigem Gesang und schwelgender Bilder.
Das Fernsehen, das inzwischen mehr Programme aufweist als mancher Hindugott Arme und Beine, genießt durch alle Schichten hindurch eine Vorrangstellung. Selbst aus den Slums ragen Antennen hervor, und Familien, die über TV, Video und DVD verfugen, aber noch von Hand waschen, sind keine Seltenheit. Allerdings stimmt letzteres nicht genau, denn meist waschen sie nicht selbst, sondern lassen waschen. Die billige Arbeitskraft ermöglicht es auch Mittelklassefamilien, zumindest eine Haushaltshilfe anzustellen. Diese verdient – wenn ihr eine Schlafstätte und Essen gestellt wird – sowenig wie dreißig Euro im Monat. Der Arbeitstag umfaßt zwölf bis vierzehn Stunden – in dieser Zeit läßt sich viel Wäsche erledigen, viel Geschirr spülen.
Man richtet sich die Wohnung so ein, wie es der enge Raum, die Vielzahl an Familienmitgliedern und das kleine Budget erlauben. Daraus ergeben sich für Europäer oft ungewohnte Inneneinrichtungen, wie etwa bei dem Maler und Lehrer Jayant Pandit, der in einem der ältesten Teile Bombays lebt, in einer kleinen Wohnung in Girgaum. Nach dem Einzug hat er den Gasofen, den Kühlschrank und die Waschmaschine fast gleichzeitig gekauft, denn sowohl er als auch seine Frau waren sehr in ihrer Arbeit eingebunden und hatten wenig Zeit. Doch in ihrem hellen Heim steht weder ein Sofa noch ein Bett. Zwei zusammengerollte Matratzen in der Ecke dienen als Sitzunterlage und Schlafstätte. »Status interessiert mich überhaupt nicht«, sagt Jayant. »Wir können uns nicht leisten, Möbel ins Haus zu bringen, denn ich brauche den wenigen Raum für meine Staffelei und mein Zeichenbrett.«
Tatsächlich scheint Statusdenken bislang nur unter den Reichen vorzuherrschen. Zwar sind die indischen Jugendlichen so markenbewußt wie ihre westeuropäischen oder US-amerikanischen Gleichaltrigen, und auf MTV wird intensiv für bestimmte Jeans, Turnschuhe und Sonnenbrillen geworben, doch ihre Eltern scheinen solchen Beeinflussungen gegenüber immun zu sein. Sie sind in der Epoche vor 1992 aufgewachsen, als eine streng protektionistische Politik dafür sorgte, daß Indien alles selbst produzierte und die Auswahl dementsprechend gering war. »Wenn man einen Kühlschrank kaufen wollte, hat man Godrej gekauft, wer einen Wagen bestellen konnte, bestellte bei Maruti«, erzählte mir der Großvater eines Freundes. »Und wer einen Mixer wollte, kaufte einen Sumeet. Und dann war man mit dem Godrej zufrieden und mit dem Sumeet auch, und das nächste Mal haben wir wieder einen Godrej und wieder einen Sumeet gekauft. Sie waren günstig, und sie funktionierten. Wir standen in der Tradition gandhischer Bescheidenheit. Es galt als vulgär, Reichtum zur Schau zu stellen, als obszön, über die einfachen Bedürfnisse hinaus zu konsumieren.« Bis zum heutigen Tag verzeichnet Indien eine sehr hohe Sparquote, bei der die Konten allerdings nicht mit Einlagen, sondern die Tresore mit Schmuck gefüllt werden. »Doch all das hat sich in den neunziger Jahren geändert. Heute geht man mit Lust shoppen, frühstückt Kellogg’s Cornflakes, und manche unserer Freunde haben sich schon eine Spülmaschine oder eine Klimaanlage geleistet.«
Die Zeiten, in denen ein Kondom einzig und allein zur Schwangerschaftsverhütung eingesetzt wurde, sind endgültig vorbei. Dank den Webern von Varanasi kommen Kondome nun auch bei der Herstellung von Wickelkleidern zum Einsatz. Die Seidenweber streichen das Gleitmittel der Kondome auf ihre Weberschiffchen, damit diese glatter werden und schneller durch die Fäden gleiten, denn andere Schmiermittel hinterlassen Rückstände im Stoff Ein adäquates Gleitmittel kostet viel Geld, die Kondome hingegen werden kostenlos vom Amt für Familienplanung in der nordindischen Provinz Uttar Pradesh ausgegeben. Wahrscheinlich beglückwünschen sich dort die Beamten, wie
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