Gebrauchsanweisung fuer Indien
Fast-Food-Kreationen. Mit dem Tablett in der Hand nehmen sie in dem Atrium Platz und bestaunen die hohe Kuppel, die Fußgängerbrücken und die längste Rolltreppe der Stadt. Nach dem Essen bummeln sie an den Schaufenstern vorbei und bleiben vor jenem Juwelier stehen, dessen Auslagefläche größer als ihre gesamte Wohnung ist.
Diese Familien gehören zu jener Schicht, die seit der wirtschaftlichen Öffnung Indiens Anfang der Neunziger zunehmend mit Zukunftshoffnung beladen wird: die Mittelklasse. Obwohl weder über ihre Zahl (zwischen zweihundert und vierhundert Millionen) noch über ihr Einkommen (zwischen tausend und zehntausend Euro im Jahr) Einigkeit herrscht, sind ihr politisches Gewicht und ihre wirtschaftliche Dynamik evident. Egal von welcher Warte aus über die Zukunftsaussichten Indiens spekuliert wird, jeder geht davon aus, daß diese wachsende Schicht das Schicksal des Landes bestimmen wird. Ob sie weiter gedeihen kann, dürfte ungewiß sein, solange der Großteil des Landes eher wie der Bahnhof Bombay Central funktioniert.
Als Indien im Jahre 1947 unabhängig wurde, lebten etwa hundertfünfzig Millionen Menschen in Armut. Die Zahl ist bis heute auf weit über dreihundert Millionen angeschwollen. Gleichzeitig haben heute doppelt so viele Menschen die Möglichkeit, einen Schwarzweißfernseher oder eine Nähmaschine zu erwerben als vor zehn Jahren. Weil es diese beiden Tendenzen gibt, die bei isolierter Betrachtung das Gesamtbild dominieren können, finden sowohl Apokalyptiker als auch Euphoriker reichlich Futter, um ihre Thesen und Visionen zu belegen.
Schwarzseher machen gerne die Übervölkerung für alle Probleme des Subkontinents verantwortlich. Indiens Bevölkerung ist an einem heißen Tag vor wenigen Jahren über eine Milliarde angewachsen. Am Bahnhof, im Nahverkehrszug, erfährt man hautnahe Demonstration der Probleme: Die Leiber pressen sich aneinander, die Luft reicht kaum zum Japsen aus, der Geruch dringt durch alle Gedanken – man wird geknetet wie Teig in den Pratzen eines cholerischen Bäckers. Die indischen Megastädte kommen mit den Menschenmassen nicht mehr zurecht, nicht was die Wasserversorgung, die Unterkunft oder den Transport betrifft. Man kann den bedrohlichen Zahlen aber auch den fatalistischen Zahn ziehen: Indien ernährt sich seit der Grünen Revolution selbst – daß es gelegentlich zu Hungersnöten kommt, liegt an der mangelhaften Verteilung. Und der Bundesstaat Kerala, in dem Bildungsstandard und Lebenserwartung höher als irgendwo sonst in Indien sind, weist mit über tausend Einwohnern pro Quadratkilometer die höchste Bevölkerungsdichte auf.
Stellt man aber die Frage, was mit diesen Menschen geschieht – welche Chancen haben sie? was können sie aus ihrem Leben machen? –, stößt man umgehend auf die Ursachen für die gegenwärtige Misere: Der Staat investiert kaum in den Großteil dieser Bürger. Sie erhalten keine oder eine miserable Ausbildung, sie sind gefangen in feudalen Strukturen, sie sind kaum beteiligt an dem Gesamtvermögen. Das wichtigste Kapital, das human capital, wird wenig genutzt. Vor diesem Hintergrund erscheinten eine Milliarde Menschen als eine fast unüberwindliche Belastung. Zumal mehr als sechshundert Millionen von ihnen als Subsistenzbauern oder Kleinlandwirte mit Müh und Pein überleben. Die rasant zunehmende Globalisierung, die unausweichliche Öffnung der heimischen Märkte wird diese Menschen langfristig entwurzeln, dem Arbeitsmarkt aussetzen, in die Slums der jetzt schon explodierenden Städte drängen. Eine wirtschaftliche Entwicklung, die sie aus dieser Verelendung herausholen könnte, ist nicht in Sicht. Trotz eines mäßigen Wirtschaftswachstums in den neunziger Jahren ist die Zahl der Arbeitsplätze in diesem Zeitraum nur um jährlich 1,1 Prozent angestiegen. Die amtlichen Arbeitsbörsen verzeichnen momentan sage und schreibe vierzig Millionen Arbeitssuchende. Die Wirtschaft, die bislang Arbeitslosigkeit durch Hilfsarbeit und Unterbeschäftigung aufgefangen hat, muß sich jetzt schon mit einem neuen Phänomen auseinandersetzen: der Zunahme an gebildeten Arbeitslosen in den Städten.
Ajay, der zwanzigjährige Sohn eines Bekannten, bringt die Probleme auf den Punkt: »Am wichtigsten sind uns bessere Berufsaussichten. Was nutzen all die Titel, wenn Leute mit Magister als einfache Angestellte arbeiten müssen? Man büffelt doch nicht fünfzehn Jahre lang, um nicht einmal hundert Dollar im Monat zu verdienen. Wenn du heute die Uni
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