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Gebrauchsanweisung für Potsdam und Brandenburg

Gebrauchsanweisung für Potsdam und Brandenburg

Titel: Gebrauchsanweisung für Potsdam und Brandenburg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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dasselbe sind. Eigenwillige Benennungen wie Köckern und Motzen gehören zur zweiten Seite und sind wahrscheinlich eines vernieselten Novembers oder während einer Hochwasserkatastrophe an der Oder erfunden worden. Müllrose versucht mit mäßigem Erfolg, das eine mit dem anderen zu verbinden. Zootzen, Wutzetz, Schlalach und Schluft scheinen eher Zeichen der körperlichen Unpässlichkeiten zu sein (Beulenpest, Warzen, Hühneraugen), denen man im Laufe eines Landlebens so ausgesetzt sein mag, und zwar nicht nur vor langer Zeit, sondern auch heute. In Gegenden, wo die Buslinien eingestellt und nur noch Anruf-Sammeltaxis unterwegs sind, wo Konsum und Kneipe geschlossen werden, gibt es kaum Apotheken und einen Mangel an Ärzten.
    Wer sich diese schnöde Realität nicht ständig vor Augen führen will, kann auch sehnsüchtig in die Ferne blicken. Zu diesem Zwecke gibt es Ortseingangsschilder mit dem Schriftzug Morgenland und Orion. Und wer das jetzt alles partout nicht komisch findet, der zieht nach Ohnewitz.
    Übrigens: Nach Himmelpfort zu ziehen bedeutet, beim Weihnachtsmann zu wohnen. Das jedenfalls glauben mittlerweile Kinder aus aller Welt und schicken ihre Weihnachtswünsche nach Himmelpfort, weshalb der Weihnachtsmann dort der größte Arbeitgeber ist. Die Post hat eine Weihnachtsmannfiliale direkt neben der Zisterzienserklosterruine eingerichtet. Jährlich werden dort bis zu zweihundertachtzigtausend Briefe beantwortet.
    Manchmal ist es schwierig zu sagen, wo ein Dorf aufhört und das Städtchen beginnt. Oder anders: wann das Städtchen begonnen hat, wieder dörflich zu werden. Nehmen wir beispielsweise Treuenbrietzen. Treuenbrietzen sieht aus wie ein Städtchen. Überall weisen Schilder auf die historische Altstadt hin. In dieser Altstadt gibt es eine Gewölbebasilika und eine Pfarrkirche, beide aus dem 13. Jahrhundert, es gibt einen Pulverturm, eine Stadtmauer und die Sabinchenfestspiele. So weit alles in Ordnung. Nur: Niemand kennt das Sabinchen. (Die Geschichte ist schnell erzählt: Ein Schuster aus Treuenbrietzen hat das Mädchen zuerst verarscht und danach umgebracht, und das wird jetzt jährlich besungen). Und: Erinnert das in seiner Skurrilität nicht an das Bettenrennen von Fredersdorf? Und weiter: Auf dem Pulverturm brüten Störche. Spargelbeete wachsen auf das Städtchen zu. Die Europäische Sumpfschildröte aus der nahe gelegenen Nieplitz-Quelle tapert dem Städtchen entgegen. Erdbeerhöfe nähern sich aus jeder Himmelsrichtung. Leerstand breitet sich vom Stadtrand her aus. Auch in der Altstadt gibt es unbewohnte Häuser. Am Marktplatz hat ein Café geöffnet. Zwei weiße Plastikstühle stehen vor der Tür. Neben den Stühlen sitzt ein Mann auf seinem Rollator. Er hat ein Kännchen Kaffee »komplett« vor sich (mit Kondensmilch und Zucker). Im Hofladen in den Spargelfeldern vor der Stadt haben sich die Spargelstecherinnen heute eine Tracht übergeworfen, die aus weißer Haube und graublauem Dirndl besteht. Sie bewegen ihre Körper zum Spargeltanz im Takt. Der Weg zum Hofladen ist für die Anwohner so weit wie der Weg zum Marktplatz. »Wie geht’s?«, fragt die Bedienung den Mann auf dem Rollator, um mal wieder die eigene Stimme zu hören. »Muss ja«, sagt der und nimmt einen Schluck.

Leeres Land
    Schon kranckt dein Geist; genesen/kann er nur/Weit weit entfernt von Fasching, Ball/und Bühne. / Komm, rette dich in meinen Arm und/sühne/Dich wieder aus mit Einfalt und/Natur.
    (Pastor Schmidt von Werneuchen)
    Brandenburg stirbt aus! Brandenburg entvölkert sich! Ein leeres Land, in dem wieder Wildnis und vorzivilisatorische Dunkelheit herrschen werden! Seit einigen Jahren klingen die Prognosen über die Zukunft Brandenburgs immer alarmierender. Leben momentan noch 2,5 Millionen Menschen in Brandenburg, werden es in zwanzig Jahren nur 2,2 Millionen sein, von denen sich jeder Zweite in dicht stehenden Einfamilienhäusern im Speckgürtel drängelt. Dreihundertsiebenunddreißig Leute müssen sich dann einen Quadratkilometer teilen. In den berlinfernen Regionen dagegen steht nach der neuesten offiziellen Bevölkerungsprognose, veröffentlicht vom Landesbetrieb für Statistik, jedem Bewohner bis 2030 »rechnerisch sieben Mal so viel Fläche zur Verfügung wie im Berliner Umland.« Die Entvölkerung der Uckermark, der Prignitz oder des Lausitzkreises Spree-Neiße, die nach der Wende einsetzte und bis auf Weiteres nicht abzubremsen scheint, ist in etwa so drastisch wie nach dem Dreißigjährigen

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