Gebrauchsanweisung für Potsdam und Brandenburg
Salons tauschten sie sich über ihre neuesten Arbeiten aus, während das Eis der Havel leise erzitterte oder sich eine Eule aus dem nahen Moor auf dem Fenstersims niederließ.
Der Gutshof von Bettine und Achim von Arnim im Fläming gilt heute als der berühmteste Dichterhof im Märkischen, obwohl Bettine ihn anfänglich nicht mochte. Sie ließ ihren Mann Achim das Gut bewirtschaften und flüchtete zurück in die Berliner Salons. Erst nach seinem Tod fand sie die Einsamkeit in diesem von Feldern und bewaldeten Hügeln umgebenen Dörfchen zwischen Jüterbog und Dahme schön. Wenn sie aus dem Fenster sah, mag sie das Gleiche gesehen haben, wie ich anderthalb Jahrhunderte später: Morgens um neun marschierten die Gänse von rechts nach links über die Dorfstraße und abends von links nach rechts. Sonst geschah nichts. Ein Hahn krähte. Ein Kuckuck rief im nahen Wald. Bettine von Arnim hatte noch kein Auto. Bettine von Arnim konnte auch keinen Bus nehmen. Die nächstgelegene Stadt – Jüterbog – war auch damals schon mehr als zwanzig Kilometer entfernt. Kein Regionalexpress fuhr nach Berlin. Bettine von Arnim reiste mit der Kutsche. Sie fuhr über nicht asphaltierte Straßen. Kurz: Wiepersdorf war von Berlin in etwa so weit weg wie Krasnojarsk. (Wer heute bei schlechtem Wetter nach Wiepersdorf kommt, erlebt diese gefühlte Entfernung noch immer.) Blieb nur das Schreiben. Und so schrieb Bettine von Arnim in Wiepersdorf den sozialkritischen Text Gespräche mit Dämonen und jede Menge Briefe, unter anderem an Friedrich Wilhelm IV.
Ihre Schriften inspirierten spätere Autorinnen wie Ricarda Huch oder Sarah Kirsch zu Essays und Erzählungen. Sarah Kirsch kam nach Wiepersdorf, als das Anwesen ein sozialistisches Schriftstellerheim geworden war, dem man den Namen Bettines verliehen hatte. Auch Arnold Zweig und Thomas Rosenlöcher arbeiteten hier, und Christa Wolf regte die Salonatmosphäre mit Originalmobiliar zu ihrem Buch Kein Ort. Nirgends an.
Nach der Wende kam es zu einem fulminanten Neustart. Mehrere ostdeutsche Länder taten sich zusammen und stellten Stipendien bereit, mit denen bis zu fünfzig deutsche, russische, polnische, tschechische oder schweizerische Künstler gleichzeitig auf dem Anwesen leben und arbeiten konnten – einmal wurde sogar eine Autorin aus Aserbaidschan gesehen. Bei meinem ersten Aufenthalt als Stipendiatin wurde im Park noch Boule gespielt. Zu den Mahlzeiten gab es keinen freien Stuhl auf der Terrasse. Sogar Eigenbrötler wie der russische Autor Viktor Pelewin schlossen sich der allgemeinen guten Laune an und diskutierten bis in die Nacht über Sozialismus und Buddhismus, über Literatur, Laster und die Liebe.
Heute dümpelt Wiepersdorf mangels Geldgeber vor sich hin. Bei meinem zweiten Aufenthalt saß ich oft allein im Frühstücksraum. Schloss, Orangerie und Park lagen wie ausgestorben. Die wenigen noch vom Land Brandenburg finanzierten Künstler saßen verloren im Kaminraum, marschierten stundenlang durch den ordentlich gepflanzten Wald oder machten aus verzweifelter Suche nach Abwechslung auf dem nahe gelegenen Segelflugplatz den Flugschein. Abends griffen sie häufig auf den Gemeinschaftskühlschrank mit käuflich erwerbbaren, alkoholhaltigen Getränken zurück. Die großen Hallen der Bildhauer auf dem nahen Feld blieben verschlossen, die Reifen der Leihfahrräder hatte schon lange keiner mehr aufgepumpt. Die Hälfte des Küchenpersonals war entlassen worden. Nicht einmal die Vögel trauten sich, die Stille zu stören. Nur wenn der Hausmeister zum Geräteschuppen ging, raschelte das Laub.
Da staunt der Laie, und der Fachmann wundert sich …
So mancher Autor, unterwegs auf Lesereise im ländlichen Brandenburg, wird in diese Melancholie ebenfalls hineingezogen. Im Saal der Kleinstadtbibliothek kann er sich ungestört selbst atmen hören. Die Primel vor ihm auf dem Tisch vibriert im Rhythmus leise mit. Die Neonröhren summen. Er ist allein. Einige kluge Publizisten haben sich der Lage angepasst. Sie wissen, worauf es ankommt. Sie halten Vorträge über den Ersten oder Zweiten Weltkrieg, über den Alten Fritz, den ersten Traktor oder das Ende der DDR. Das sind meistens Männer jenseits der sechzig, die günstigerweise alle so aussehen wie Manfred Stolpe. Sollte eine Frau den wahnwitzigen Versuch starten wollen, die zwanzig Stuhlreihen der örtlichen Bibliothek wenigstens zur Hälfte zu füllen, hüllt sie sich keck in ein Tuch und redet über die Pflege des Körpers oder ihren
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