Gebrauchsanweisung für Potsdam und Brandenburg
hochkulturellen Ernst ausnahmsweise einmal ablegen dürfen. Das liegt andererseits daran, dass diese Festivals die beste Gelegenheit sind, seine Liebe fürs Land auszuleben, ohne größere Kompromisse eingehen zu müssen. Man sitzt auf der Wiese, hört die Wespen summen, kann sich aber unter Hunderten Menschen so fühlen wie auf dem Alexanderplatz oder im Freiluftkino der Waldbühne. Die Karten sollte man schon ein Jahr im Voraus kaufen, denn auch die Bewohner der fünfzig umliegenden Dörfer sehen sich das Spektakel gern an, das meistens mit einem Feuerwerk oder einer Lichtershow endet.
Die einen lassen sich von den anderen auf sehr einfache Weise unterscheiden. Dort, wo die Familienmutter noch lange nach der Ankunft auf dem zum Parkplatz umgerüsteten Stoppelfeld kopfüber im Kofferraum steckt, um unwahrscheinliche Mengen an Decken, Mückenspray, Klappstühlen, Regenjacken, Sommerhüten und Wasserflaschen zu Tage zu fördern, als wäre sie in die sibirische Taiga geraten, und ein nervlich schon leicht angekratzter Familienvater versucht, all diese Dinge in seinen Armen oder im bereitstehenden Kinderwagen zu stapeln (während das Kind die Stoppeln auf dem Feld verkostet), handelt es sich um die Leute vom Alex. Dort, wo der total verdreckte Kombi mit Karacho aufs Feld setzt und aus seiner Staubwolke entweder eine Gruppe ununterscheidbarer Menschen in Fleece oder ein älteres Paar in Sonntagsstaat entlässt (sie: geblümte Bluse, weißes Strickjäckchen, er: leicht abgewetztes Jackett und Eisenbahnermütze), handelt es sich um Menschen aus dem Nachbardorf, die »ma eben kurz rumkomm«.
Zur Ribbecker Sommernacht sitzen dann alle gemeinsam an langen Holztischen im Birnengarten des ehemaligen Gutes derer von Ribbeck. Es duftet nach frischem Gras. Auf dem Tisch liegen deftiges Holzofenbrot und Käsebrocken. Die Birnen an den schmalen, knorrigen Bäumen sind reif, der Blick geht weit übers Feld. Eine Papiermaske dient als Eintrittskarte, von einem Teil des Publikums gleich angelegt. Silbern maskiert, wandelt es passend zum aufgeführten »Sommernachtstraum« romantisch durch die Gärten. Ein Trompetensignal kündigt verschiedene Tanz- und Gesangseinlagen auf dem Anwesen an, bevor die Theateraufführung vor der Schlosskulisse losgeht, und wenn am Ende des Abends ein Gewitter aufzieht und der Berliner Jurist für Staatsrecht unter dem Schirm der Kartoffelsortiererin aus dem Nachbardorf Schutz findet, haben alle das schöne Gefühl, man sei sich irgendwie näher gekommen.
Das Opernfestival »oper.oder.spree« erzeugt ähnliche Gefühle und verschafft vielen osteuropäischen Musikern Arbeit. Sie führen ihre Arien oder nachtfüllenden Opern im spätgotischen Kreuzgang des Klosters Neuzelle, im mittelalterlichen Burghof von Beeskow oder in einer Mühle im Schlaubetal auf. Schirmherr dieses kulturellen Highlights im Ländlichen ist bezeichnenderweise der Minister für Landwirtschaft.
Damit die Städte angesichts dieser sommerlichen Festivalschwemme nicht völlig entleert zurückbleiben, stellen sie nun ihrerseits eine Festivalkultur auf die Beine. Eine echte Konkurrenz sind die großen Parkfestivals in Potsdam. Beinahe jedes Wochenende wetterleuchtet im Sommer der Himmel. Feuerwerke steigen hinter dem Belvedere auf, flackern über Schloss Sanssouci oder lassen die Röcke der Mamorskulpturen auf den Dächern des Neuen Palais wippen. Hatte man in den Gründungsjahren der »Musikfestspiele Sanssouci« noch Chancen, eine Karte für dieses begehrte Konzertereignis mit abschließendem Raketenzauber zu ergattern, ist es heute ratsam, sich rechtzeitig eine Freundin, einen Verwandten oder jemanden zuzulegen, der einem noch etwas schuldet und bei der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten oder beim Ticketservice arbeitet. Sonst steht man stundenlang nach Karten für ein Vesperkonzert in der Orangerie oder für die englische Barocksinfonie auf den Schlossterrassen an und ärgert sich, weil die lautesten Verhöhner Brandenburgs jetzt garantiert alle vor einem stehen. Geht man am Ende leer aus, weil ein Berliner sich mal wieder vorgedrängelt hat, kann man nur auf das zweite Großereignis hoffen; die »Schlössernacht« Ende August.
Zur Schlössernacht sollte man gutes Schuhwerk tragen. Um sämtliche Bühnen, jeden Komiker, jede Band, alle Theatergruppen und Einzeldarsteller zu sehen, legt man an diesem langen Abend locker zehn Kilometer zurück, was man vor lauter Aufregung zwar nicht sofort, spätestens aber am nächsten
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