Gebrauchsanweisung für Potsdam und Brandenburg
Fensterläden sind zur Verschönerung kleine Herzen geschnitzt. Rauno lag in einer Gegend, in der noch heute Schiebermützen und Kordhosen getragen werden und in der die brandenburgische Mundart eine südliche Einfärbung hat; sie klingt so, als drücke die Zunge beim Sprechen etwas stärker als sonst auf die Vokale und mache sie weicher.
Die Mundart ist noch da, die Gegend ist noch da, nur das Dorf wurde abgeräumt. Als ich zehn Jahre alt war, rückten die Bagger näher. Meine Oma musste Haus und Garten beinahe entschädigungslos aufgeben und umsiedeln. Sie lebte fortan in einem Neubaughetto im nahe gelegenen Senftenberg. Niemand kümmerte sich um den Zusammenhalt von Nachbarn, niemand bot mentale Unterstützung zur Verarbeitung der Entwurzelung an, das Thema Entwurzelung kam in der Psyche eines sozialistischen Menschen offiziell nicht vor. Nur manchmal sprach meine Oma sehnsüchtig von ihrem Garten und den Gladiolen. Ihr Mann wurde dann unwirsch. Er ging in die Küche. Er setzte sich ans Fenster hinter die Zimmerpflanzen, sah hinaus auf den Neubaublock gegenüber und rauchte eine Zigarre.
Auf den Landkarten ist Rauno heute ein Punkt inmitten einer Rekultivierungslandschaft. Jeder der hellgrauen Punkte zeigt ein verschwundenes Dorf an. Die Gegend um den Punkt Rauno ist mit jungem Wald aufgeforstet. In diesen Wäldern wird jetzt immer öfter Wolfslosung gesichtet. Im brandenburgischen Teil der Lausitz soll es drei Wolfsrudel und ein Wolfspärchen geben. Auch die Tiere sind an das Verlagern der Lebensräume gewöhnt. Sie haben sich dieser Landschaft angepasst, in der sich alles ständig verschiebt. Vor hundertfünfzig Jahren hatte man die Wölfe systematisch ausgerottet. Seit den Neunzigerjahren kehren sie, aus dem Osten kommend, zurück. Die Anzahl der Welpen, die jährlich am Rand der Tagebaue zur Welt gebracht werden, ist größer als die Anzahl an Welpen, die überfahren und illegal erschossen werden oder verhungern. Wildschützer verfolgen den Nachwuchs über Monitoring, Wolfsbeauftragte werten den Zuwachs statistisch aus. Dank der Wölfe konnte sich Brandenburg den hoffnungsfrohen Titel »Wolfserwartungsland« geben. Mithilfe dieser Wortschöpfung können nun Förderrichtlinien erstellt werden, nach denen Schafzüchter zum Schutz ihrer Tiere beim Kauf von Elektrozäunen und Flatterbändern finanzielle Unterstützung erhalten. Erste touristische Angebote für Wolfsafaris gibt es ebenfalls. Dann tapert eine kleine Gruppe Naturliebhaber durch den nächtlichen Forst, angeführt von Menschen mit zum Zopf gebundenem Langhaar und Karohemd, damit beschäftigt, geschnürte Pfotenabdrücke zu vermessen und an wochenaltem Wolfskot zu riechen in der Hoffnung, wenigstens den Schatten eines Isegrimms zu erspähen. Bisher vergeblich. Denn auch ein Wolf macht sich nicht gern zum Wolf und bleibt gegenüber allen Versuchen, sein Leben managen zu lassen, misstrauisch. Erst wenn er es auf einen Aufkleber fürs Autoheck geschafft hat, wird er sich vielleicht geschmeichelt fühlen und sein Misstrauen für den guten Zweck des Tourismus vorübergehend ablegen.
Rauno hätte – wie Rosendorf – in einem See landen können. Ich hätte mir das gewünscht: das Geburtshaus meines Vaters am Grunde eines Beckens, in dem sich das saure Wasser sammelt, das in den stillgelegten Tagebauen aus dem schwefelhaltigen Boden austritt und klar ist wie Gebirgsseewasser. Langsam steigt der Grundwasserspiegel, langsam reicht das Wasser aus, um die Verbindungskanäle zwischen den neuen Seen zu füllen, langsam verbessert sich der Ph-Wert in Richtung »neutral«. Langsam wachsen auch die Birken und Kiefern, denen man heute noch den Reißbrettentwurf ansieht, nach dem sie gepflanzt wurden, am Ufer mit Unterholz zu. Die Sandstrände sind schon fertig. Das ist für den Lausitzer »Karnickelsand« die einfachste Übung; seine gelbweiß leuchtende Farbe ist dem Sandstrand der Ostsee nicht unähnlich. So hätte ich mir das gewünscht: bunte Luftmatratzen und Segelboote, die über das Dach des Elternhauses gleiten, ein Taucher, der ein paar Muscheln vom Schornstein pflückt, und schillernde Fische in den Fensterrahmen des Kinderzimmers. Und die Gladiolen wachsen zur Wasseroberfläche, wo sie wie Seerosen blühen.
Am Ufer einiger Seen gibt es kleine Marinas. Erste Camper haben ihre Wohnwagen mit Vorzelt aufgebaut. Das Holz der Stege riecht noch nach Schreinerei. Ein paar Badegäste liegen im Sand. Es stört sie nicht, beim Schwimmen rote Augen zu bekommen,
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