Gebrochen
Gründe. Er machte das nicht, weil er mir wehtun wollte, oder weil er es nicht besser wusste, sondern weil sein Entsetzen und seine Angst gerechtfertigt waren.
Als mir das wieder klar war, stand ich auf und ging ihm nach. Er lag schluchzend im Bett, zusammengerollt. Es brach mir fast das Herz, dass er so sehr litt. Ich setzte mich zu ihm, fasste ihn aber nicht an.
„Dir muss endlich klar werden, dass du hier sicher bist. Dass du bei mir sicher bist. Und es wird sich auch nichts ändern. Die Gefühle habe ich nicht erst seit gestern“, erklärte ich leise. Ich hatte nicht mit einer Reaktion gerechnet, doch er nickte. Erleichtert atmete ich auf. Die Versuchung, die Hand auf seine Schulter zu legen, war groß, doch ich widerstand ihr.
„Meine Mutter hat gesagt, dass sie mich liebt. Früher. Mein Vater auch einmal“, schluchzte er. Hilflos saß ich hier und konnte gar nichts machen. Wie sollte er mir glauben, wenn er von seinen Eltern so enttäuscht worden war? Wenn ihm die Menschen, die einen behüten und beschützen sollten, solche Dinge angetan hatten? Wie konnte er je wieder jemandem vertrauen?
Wie konnte er mir vertrauen?
Wie lange war er denn schon hier? Fünf Wochen? Sechs? Mir kam es wie eine Ewigkeit vor. Egal ob er meine Gefühle erwiderte oder nicht. Für mich war es eine Beziehung.
Ich wagte nun doch, ihm die Hand auf die Schulter zu legen. Dass er sich kaum verspannte deswegen, machte meine weiteren Gedanken nicht leichter zu ertragen. Doch es ging nicht um mich, nicht um meine Gefühle. Was hatte ich schon ertragen? Kleine Hoffnungen, die zerstört worden waren. Eine gescheiterte Verliebtheit. Dinge, die jeder Teenager erlebte. Was war das schon im Gegensatz zu dem, was er hatte ertragen müssen? Wie ein Mückenstich im Gegensatz zum Biss einer hochgiftigen Schlange.
Auch wenn mir an ihm mehr lag, als an jedem anderen. Auch wenn es bei ihm mehr sein würde, als ein paar Tage der Enttäuschung. Auch wenn es mir das Herz zerriss. Ich musste ihn gehen lassen, wenn er wollte. Ich zwang meine Gefühle zurück, sie waren hier nicht von Belang.
„Eine kleine Wohnung zu finden, sollte keine Schwierigkeit sein. Dort hättest du deine Ruhe. Also wenn du gehen willst…“, ich brach ab, bevor mir die Stimme versagen konnte.
„Nein!“, entfuhr es ihm. Erstickt wegen seiner Tränen, doch entsetzt.
„Schick mich nicht weg, bitte“, flüsterte er flehend.
„Ich schick dich nicht weg. Ich lass dir nur die Wahl“, erklärte ich. Leon drehte sich um, sodass ich schnell die Hand wegnahm.
„Ich will hier bleiben, bei dir. Bei dir fühle ich mich sicher“, sagte er leise und sah mich dabei verzweifelt an. Ich nickte, presste meine Hände zwischen meine Schenkel, um sie daran zu hindern, ihn an mich zu ziehen. Das erleichterte Lächeln war nicht aufzuhalten, auch wenn er es sah. Er blickte mich noch immer an, so lange wie noch nie.
„Das ist gut“, brachte ich heraus. Leon legte sich wieder auf die Seite, rollte sich ein. Wieder legte ich die Hand auf seine Schulter, obwohl er nicht mehr weinte. Es war einfach zu schön, dass ich ihm so Trost spenden durfte. Es linderte meine Hilflosigkeit ein wenig.
„Ich will dir ja vertrauen. Aber …“, er brach ab.
„Es ist ok. Lass dir Zeit“, erwiderte ich sanft.
„Aber ich …“
„Es gibt kein Aber“, fiel ich ihm ins Wort, „Du brauchst Zeit. Du hast acht Jahre gelitten. Lass dir Zeit.“
Leon schüttelte den Kopf, sagte aber nichts. Ich wusste nicht, was er damit sagen wollte, doch ich fragte auch nicht nach. Nach einer Weile, erklärte er es von selbst.
„Zwölf, es waren zwölf Jahre“, flüsterte er. Dann schluchzte er einmal auf. Ich erstarrte, als ich das ausgerechnet hatte. Es dauerte eine Weile, weil ich es nicht glauben konnte.
Neun! Er war gerade mal neun gewesen, als …
Welche Eltern machten das mit ihrem Kind!?
Ich war so in Entsetzten erstarrt, dass ich nicht merkte, wie die Zeit verging. Leon schreckte mich richtig auf, als er meinte: „Du musst los, oder?“
„Was?“, machte ich verständnislos, schüttelte den Kopf, um ihn wieder klar zu bekommen.
„Deine Eltern“, sagte er nur. Das hatte ich glatt vergessen. Mit einem schnellen Blick auf die Uhr stellte ich fest, dass ich mich sogar ranhalten sollte. Andererseits war es mir im Moment vollkommen egal, ob ich zehn Minuten zu spät bei meiner Mutter aufkreuzte. Eigentlich wollte ich ja gar nicht weg. Andererseits, wollte er sicher seine Ruhe. Und ich brauchte die
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