Gebrochene Schwingen
gemeines verführerisches Verhalten. Eifersüchtig? Ich?« meinte sie arrogant. »Eifersüchtig auf meine eigene Tochter?
Lächerlich!« Sie drehte sich wieder zu ihrem eingebildeten Spiegel und lächelte heiter und selbstzufrieden. »Du wirst es niemals mit meiner Schönheit aufnehmen können, Leigh. Die Schönheit einer reifen Frau. Du bist ja noch ein Kind.«
Sie betrachtete sich in dem eingebildeten Spiegel und bürstete wieder ihre Haare. »Ja, ich weiß, was du tust, Leigh«, fuhr sie fort. »Tony hat sich darüber beklagt, und ich habe es gesehen, also streite es nicht ab. Dein Körper entwickelt sich, das sehe ich wohl. Immerhin bist du ja meine Tochter. Du wirst schön werden, wirklich schön. Wenn du auf mich hörst, hart an deiner Frisur und deinem Make-up arbeitest und dich pflegst, wie ich es tue, ja, dann wirst du einmal so schön wie ich.« Plötzlich hörte sie mit dem Bürsten auf und schlug mit der Bürste auf den Frisiertisch. »Was erwartest du eigentlich von Tony? Natürlich schaut er dich an, aber das bedeutet noch lange nicht das, was du denkst. Ich habe gesehen, wie du deinen Körper verführerisch an den seinen geschmiegt hast, o ja, das habe ich.«
»Jillian…« Ich konnte es nicht glauben, daß sie immer noch meiner Mutter vorwarf, was passiert war. »Du bist eine verrückte alte Frau, total verrückt. Meine Mutter hat so etwas nicht getan. Du warst es. Du bist schuld. Meine Mutter war jung und unschuldig. Ich weiß, daß sie es war.« Ich zitterte vor Wut. Ich wollte es nicht glauben, daß meine Mutter Tony verführt haben könnte. Ich wollte, ich konnte es nicht glauben.
»Durch deine Eifersucht ist meine Mutter gestorben. Selbst deine Verrücktheit kann das nicht vertuschen.«
Sie hörte auf zu reden und richtete sich nun kerzengerade auf.
»Warum schaust du mich so an? Du hast es nie gemerkt, wenn ich dir gefolgt bin, nicht wahr? Du hast nie gemerkt, daß ich da war, draußen, vor der Tür, im Schatten, und euch beobachtet habe. Aber ich weiß Bescheid. Ich brachte es nicht fertig, hineinzugehen und der Sache ein Ende zu machen, aber ich war da. Ich war da«, flüsterte sie.
Ich starrte sie an. Konnte das wahr sein, was sie sagte?
Konnte es sein, daß meine Mutter Tony verführt hatte? Ich weigerte mich, es zu glauben. Und dennoch… dennoch… Ich hatte Troy verführt. Ich wußte, wie leidenschaftlich mein Blut war. War es die Leidenschaft meiner Mutter, die ich geerbt hatte? Vielleicht war es das, was der Reverend gesehen hatte, als er voraussagte, ich würde alles zerstören, was ich liebe und was mich liebt.
Ich lief hinaus zu Martha Goodman, die still in ihrem Sessel saß und strickte.
»Sie müssen das beenden«, rief ich aus. »Sie dreht durch da drinnen. Sie beschmiert sich über und über mit Make-up und Rouge und Lippenstift.«
»Oh, sie wird bald müde«, sagte Martha und lächelte mild.
»Ich gebe ihr ein Mittel. Ich sage ihr, es wäre ein Vitaminpräparat, das sie ewig jung halten wird. Dann wasche ich ihr das Gesicht und räume auf, und sie hält ein langes Schläfchen. Machen Sie sich keine Sorgen.«
»Aber sieht Tony denn nicht, wie schlimm es mit ihr geworden ist? Kommt denn kein Doktor?«
»Aber natürlich. Viele, meine Liebe. Die Ärzte meinen, sie gehört in eine Anstalt, aber davon will Mr. Tatterton nichts wissen. Machen Sie sich keine Sorgen. Sie ist doch die meiste Zeit glücklich.«
»Sie erinnert sich nicht an mich, oder?«
»Derzeit nicht. Sie spricht viel von Ihrer Mutter«, sagte Martha und blickte hinunter auf ihr Strickzeug. Ich erkannte, daß sie viele häßliche Wahrheiten aus dem Gebrabbel meiner Großmutter aufgeschnappt hatte.
So schnell ich konnte, verließ ich Jillians Räume. Eigentlich floh ich vor den Bildern, die sie zum Leben erweckt hatte. Als ich in unser Zimmer kam, kramte ich das dicke Fotoalbum meiner Mutter hervor. Ich betrachtete wieder einmal die Bilder aus ihrer Schulzeit in der Hoffnung, eine Bestätigung für meine Überzeugung zu finden, daß sie zwar schön, aber unschuldig, wild, aber rein gewesen war. Wenn ich nur für einen Augenblick, nur ganz kurz, tatsächlich in diese blauen Augen schauen konnte, dann wüßte ich die Wahrheit, dachte ich. Aber wollte ich es wirklich wissen?
»Erzähl mir bloß nicht, du versteckst dich noch immer in diesem Zimmer?« erschreckte mich Logan, als er den Raum betrat. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie lange ich hier gesessen und an die Vergangenheit gedacht hatte. Schnell
Weitere Kostenlose Bücher