Gebrochene Schwingen
nur viel zu tun, das ist alles.«
»So viel zu tun, daß du nicht bemerkt hast, was hier in Farthy vor sich geht. Alle Dienstboten sind wegen Jillian beunruhigt«, sagte ich. Tony lächelte kalt und legte ein Bein über das andere. Er strich mit einem Finger an einer seiner scharfen Bügelfalten entlang und sah mich dabei an.
»Weißt du auch genau, daß du nicht diejenige bist, die wegen Jillian verstört ist? Versetzt dich etwa ihre Anwesenheit in Unruhe?«
»Natürlich nicht«, erwiderte ich. »Ich denke nur an ihr Wohlergehen.«
»Ich verstehe.« Er setzte sich zurück, um seinen Drink zu nehmen. »Gut«, sagte er, »ich lasse morgen den Arzt kommen.
Was soll ich tun, wenn er empfiehlt, sie in eine Anstalt für psychisch Kranke einzuweisen? Soll ich sie fortschicken, damit die Dienstboten aufhören, sich über sie lustig zu machen?«
»Wir müssen das tun, was für sie am besten ist«, sagte ich.
Ich konnte es nicht verhindern. Ich zitterte jetzt.
»Natürlich.«
»Tony«, sagte ich und setzte mich auf den Schemel am Klavier. »Die Hütte von Troy…«
»Was ist mit Troys Hütte?« Er beugte sich vor.
»Es ist… du hast sie so gelassen, wie sie war… wie ein Denkmal.«
»Bist du dort gewesen?« Ein kurzer Schimmer der Angst leuchtete in seinen Augen auf, doch er unterdrückte ihn schnell. »Ich verstehe«, sagte er, indem er sich zurücklehnte.
»Was hätte ich deiner Meinung nach damit tun sollen, sie niederbrennen?«
»Nein, aber – «
»In gewissem Sinne hast du recht, Heaven«, sagte er, und alle Wut und aller Ärger waren aus seinem Gesicht verschwunden.
»Wir alle müssen mit unserer Schuld leben… mit unseren eigenen Geistern. Ich habe alles für ihn getan, was ich konnte.
Ich war böse auf ihn, weil er sein Leben fortgeworfen hatte, aber das heißt nicht… daß ich ihn nicht vermisse«, sagte er.
Ich biß mir auf die Lippen und versuchte, den Kloß, der mir im Halse steckte, runterzuschlucken. Ich fühlte, wie sich meine Augen mit Tränen füllten.
»Wir neigen dazu, in unserer Trauer in Selbstmitleid zu versinken«, fuhr er fort. »Wir denken, niemand könne so viel leiden wie man selbst. Du warst nicht die einzige mit einem gebrochenen Herzen.«
Das lange Schweigen zwischen uns wurde unterbrochen durch den Eintritt von Logan.
»Ich sterbe vor Hunger«, erklärte dieser. Er blickte von Tony zu mir, dann wieder zu Tony. »Stimmt etwas nicht?«
»Schon gut«, sagte Tony. »Nichts, was man nicht in der nächsten Zeit in Ordnung bringen könnte.« Er wandte sich zu mir. »Habe ich recht, Heaven?« fragte er.
»Ja«, sagte ich. Ich erhob mich von dem Klavierschemel, ließ meine Finger leicht über die Tasten gleiten und folgte Tony und Logan. Die Erinnerung an Troys Musik verblaßte langsam, als wir zum Essen gingen.
6. KAPITEL
Ein Gesicht in der Dunkelheit
Am nächsten Tag kam Jillians Arzt, um sie gründlich zu untersuchen. Er stellte fest, daß sie körperlich bemerkenswert gesund war. Ihr psychischer Zustand jedoch hatte sich tatsächlich verändert. Er verschrieb ihr Beruhigungsmittel.
Martha Goodman war zufrieden und damit einverstanden, weiterhin bei Jillian zu bleiben.
Am Tag nach dem Besuch des Arztes fuhren Tony und Logan mit Paul Grant, dem Architekten, nach Winnerow, um den Bauplatz zu besichtigen. Ich begleitete sie, damit ich später mit Grant über die ersten Arbeiten sprechen konnte. Ich war von Paul sehr beeindruckt, und seine Vorschläge gefielen mir sehr gut. Er hatte ein maßstabgetreues Modell der geplanten Fabrik entworfen und es harmonisch der Landschaft angepaßt. Es sah aus wie ein kompliziertes Tatterton-Spielzeug.
»Ich möchte gern den Wald hier erhalten«, sagte er und zeigte auf die rechte Seite des Modells, »und nur eine geschwungene Auffahrt bauen, hier, wo die Anfahrt für die Lieferanten abbiegt. Natürlich müssen die Gebäude alle aus Holz sein. Gebäude aus Stein oder aus Metall wären in dieser Umgebung…« Er schaute zu mir auf. »Nicht ganz angemessen. Meinen Sie nicht auch?«
Ich antwortete nicht, doch er wußte, daß es mir gefiel. Er lächelte und fuhr mit seinen Erklärungen fort. Er hatte es geschafft, der Fabrik den Charakter einer Hütte zu geben. Sie sah aus, als gehöre sie zu den Randgebieten von Winnerow. Es gab eine Kantine, wo die Handwerker ihr Mittagessen einnehmen konnten, einen großen Arbeitsbereich, genügend Lagerraum und großzügig geschnittene Räume für die Auslieferung und Verpackung. Es gab ein Büro für
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