Gedankenmörder (German Edition)
sie.
«Wie oft holt dich die Hure in ihr Bett? Jede Woche, jeden Abend?» Er schnaufte voller Verachtung. Navideh schaute ihn entsetzt an. «Legst du dich auf sie oder bist du unten? Ihr könnt mir ja mal vormachen, wie ihr es miteinander treibt. Dann weiß ich endlich, was meiner Schwester gefällt und warum ihr kein Mann, den ich ihr besorgt habe, gut genug war.»
Seine massige Gestalt stand jetzt drohend vor ihr.
«Mahmud bitte, du irrst dich», versuchte Navideh ihren Bruder zu beruhigen.
«Du Schlampe, elende Fotze. Wagst es, deinen Bruder auch noch zu belügen.»
Seine Stimme überschlug sich. Der erste Faustschlag traf sie unterhalb des rechten Auges. Navideh sackte zu Boden.
«Bitte, Mahmud …» stöhnte sie. «Bitte …»
Doch bevor sie weiterreden konnte, rammte Mahmud ihr voller Wucht seinen rechten Fuß in den Bauch. Navideh hörte, wie eine Rippe brach. Einige Sekunden lang glaubte sie, keine Luft mehr zu bekommen. Ein weiterer Tritt traf sie an der Schulter. Doch Navideh spürte keine Schmerzen mehr. Sie hörte nur noch das Gebrüll des tobenden Mannes über ihr und das dumpfe Dröhnen, das jeder weitere Tritt in ihrem Kopf auslöste.
Auf allen vieren versuchte sie, unter den Küchentisch zu kriechen. Doch der Fremde, der in einem früheren Leben einmal ihr Bruder war, zog sie an den Haaren wieder hervor. Hilflos lag sie vor seinen Füßen. Unfähig, sich noch zu rühren.
In weiter Ferne hörte Navideh einen Schrei. Einen Laut, der nicht von dieser Welt zu stammen schien. ‹Warum bringt mich Mahmud nicht einfach um? Warum muss er noch so schreien?›, dachte Navideh. Im selben Moment hörte sie, wie irgendwo Porzellan zerbarst, und die Scherben um sie herum den Boden bedeckten.
Mahmud hatte aufgehört, auf sie einzuschlagen. Er saß jetzt neben ihr, hielt sich den Kopf und schaute verblüfft zur Küchentür. Über seine linke Wange lief eine feine Blutspur. Navideh konnte verschwommen erkennen, dass im Eingang eine Frau stand. Ihr Gesicht war wutverzerrt.
Über ihrem Kopf hielt sie einen der Küchenstühle, die Navideh kürzlich auf dem Sperrmüll entdeckt hatte, und rannte damit im selben Moment auf die beiden am Boden liegenden und hockenden Menschen los. Gleich würde der Stuhl auf ihrem Kopf zersplittern. Vergeblich versuchte Navideh ihren linken Arm zu heben, um ihren Kopf zu schützen. Aber der Arm wollte ihr nicht mehr gehorchen. In Erwartung des endgültigen Schlages schloss Navideh einfach die Augen.
Doch diesmal blieb sie verschont. Der Mann hatte der Angreiferin den Stuhl entwunden und sich wie ein Besessener auf sie gestürzt. Navideh registrierte, dass sie nun alle drei am Boden lagen. Der Mann zerrte an der Bluse der Frau und versuchte, sie mit beiden Händen zu zerreißen. Navideh hörte, wie er immer wieder denselben Satz rief: «Ich zeig dir, was ein Mann mit einer Hure wie dir macht. Warte, ich zeige es dir.»
«Navideh!»
Als sie ihren Namen hörte, erwachte Navideh wie aus einer Trance. «Navideh, hilf mir!»
‹Mein Gott, er bringt Vanessa um›, schoss es ihr plötzlich durch den Kopf. Mit einem Ruck richtete sie sich auf.
Später wusste sie nicht, woher sie die Kraft genommen hatte, in den Flur zu kriechen, sich an der Garderobe hochzuziehen und ihre Dienstwaffe aus der Jacke zu holen. Sekunden später richtete sie den Lauf auf den Kopf ihres Bruders.
«Lass sie sofort los oder ich knall dich ab.»
Zitternd entsicherte sie ihre SIG Sauer. Doch Mahmud lachte nur höhnisch, drehte sich um und riss an dem Gürtel seines Opfers.
Den Klang des Schusses würde Navideh nie vergessen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht rollte Mahmud von Vanessa runter und presste beide Hände an seinen blutenden rechten Oberschenkel.
Vanessa kroch zitternd zu Navideh, die noch immer auf ihren Bruder zielte und sich mit der anderen Hand am Türrahmen abstützte.
Navideh fühlte sich auf einmal ganz ruhig.
«Auf dem Küchenschrank neben dir liegt mein Handy. Drück auf Telefonverzeichnis und dann auf S und gib es mir», befahl Navideh ihrer Freundin.
Stumm gehorchte Vanessa.
Navideh sah, dass sie lautlos weinte.
Dreimal musste Navideh es klingeln lassen. Drei Ewigkeiten lang. Dann war Steenhoff endlich am Apparat. Mühsam bewahrte Navideh ihre Beherrschung.
«Frank, bitte. Du musst kommen. Sofort. Ich …, wir …, wir sind in unserer Wohnung überfallen worden. Ich habe den Täter angeschossen. Bitte beeil dich.»
Steenhoff traf kurz vor den Sanitätern und den
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