Gedenke deiner Taten
mit. Mein Leben ist der Horror.«
Chelsea ging zu Lulu und umarmte sie.
»Es tut mir so leid.« Lulu holte zittrig Luft. »Ich würde dir niemals wehtun. Ich habe es nicht getan, um dich zu verletzen. Ich bin eine Idiotin.«
Auf einmal rüttelte jemand an der Tür.
»Psst«, machte Chelsea. Sie knipste die Lampe über dem Funkgerät aus, und beide Mädchen starrten auf den Türknauf, der sich langsam drehte.
Lulu zog Chelsea ans hintere Ende der Hütte, die nur aus einem Raum bestand. Sie versteckten sich hinter dem wuchtigen Kamin, der einen halben Meter aus der Wand ragte, drückten sich an die Wand und klammerten sich aneinander fest. Der Türknauf drehte sich wieder und wieder und immer heftiger. Der Eindringling gab nicht auf. Dann wurde es plötzlich unerträglich still. Bitte, lass es nur einen Traum sein, dachte Chelsea. Sie beugte sich vor, aber Lulu zerrte sie zurück. Nicht, Chelsea, nicht bewegen!
Aber Chelsea streckte die Hand aus und tastete sich um die kalte Steinkante herum, bis ihre Fingerspitzen den gusseisernen Ständer mit dem Feuerhaken und der schweren Ascheschaufel gefunden hatten . Was tust du da? Er wird dich sehen . Wenn sie den Arm noch ein bisschen weiter reckte, bekam sie den Ständer zu fassen.
Es war, wie ihre Mutter gesagt hatte. Diese Türen hielten niemanden ab. Auch die beiden Fenster neben der Tür und zwischen den Stockbetten konnte man problemlos einschlagen. Sie hatten sich nie Gedanken gemacht, weil sie sich auf Heart Island sicher gefühlt hatten. Bis heute Nacht hatte sich keiner auf die Insel gewagt, der nicht hierhergehörte. Chelseas Herz flatterte wie ein gefangener Vogel. Noch ein Stückchen weiter, ein winziges Stückchen.
Und dann krachte es, wieder und wieder, so als versuche jemand, die Tür mit schweren Stiefeln einzutreten. Lulu konnte nicht anders, als zu schreien. Chelsea erschrak, zuckte zusammen und stieß das Kamingeschirr um. Sie hielt den Atem an, als es mit einem lauten Knall auf dem Steinboden landete.
Es wurde still. Chelsea und Lulu hielten den Atem an. Wie viel Zeit war vergangen? Eine gefühlte Ewigkeit standen sie da, ihre Ohren klingelten, und Lulu weinte leise. Chelsea ging auf die Knie und griff zum Feuerhaken. Im selben Moment gingen die Schläge gegen die Tür wieder los, langsam und kraftvoll. Die gesamte Hütte schien zu beben. Sie waren zwei kleine Schweinchen in einem Haus aus Stroh. Und davor stand der große, böse Wolf: Ich werde husten und prusten und dein Haus zusammenpusten . Das gerahmte Foto von Chelseas Großeltern fiel von der Wand und ging klirrend zu Bruch. Chelsea hielt den Feuerhaken fest umklammert und drückte Lulu die Schaufel in die Hand. Lulu zitterte so stark, dass sie sie kaum festhalten konnte. Die Schaufel war zu schwer für sie, Lulu konnte sie kaum anheben. Chelsea versuchte, das Gesicht der Freundin im Dunkeln zu erkennen.
Chelsea bewegte sich auf die Tür zu. Lulu blieb hinter ihr. Chelsea holte mit dem Eisen aus wie mit einem Baseballschläger. Was hatte ihr Trainer immer gesagt? Du sollst den Ball nicht treffen, du sollst ihn zertrümmern. Pulverisieren. Die Bruchstücke bis ins Weltall schlagen.
Als die Tür zerbrach, das Holz barst und sein Stiefel in dem Loch feststeckte und er versuchte, sich weiter hindurchzuzwängen, dachte Chelsea, dass es so war wie in einem Albtraum, wie in einem Horrorfilm. Er war der Fremde, vor dem man sie immer gewarnt hatte, der sie verletzen und verschleppen wollte. Chelsea erstarrte und sah atemlos mit an, wie ein Arm sich durch die Öffnung zwängte. Seine Hand tastete nach dem Türknauf, versuchte, das Schloss zu öffnen. Sie dachte: Das war’s, wir werden sterben .
Lulu, die bis eben noch geweint hatte, stieß einen kehligen Schrei aus, eine Art Kampfgeheul. Sie drängte an Chelsea vorbei. Sie und Chelsea spielten im selben Team, vielleicht hatte auch sie sich an die Anweisung des Trainers erinnert. Denn sie hob die Schaufel wie einen Schläger in die Höhe und drosch auf den fremden Arm und das Bein ein, als wolle sie Hackfleisch daraus machen.
Durch Lulus Attacke und ihr Geschrei wachte Chelsea aus ihrer Trance auf. Sie steckte sich die Trillerpfeife in den Mund und blies nach Leibeskräften hinein. Und dann half sie ihrer Freundin und prügelte auf den bösen Wolf ein.
DREIUNDDREISSIG
A uf dem Weg zur Hütte hörte Kate, wie Anne ein entsetzliches Wehklagen anstimmte. Das Geräusch traf Kate bis ins Mark. Sie stellte sich vor, wie Anne sich über ihren toten
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