Gefaehrlich begabt
betäubte die Sinne. Ihr Herzschlag passte sich seinem an, ihre Seelen begaben sich im Einklang in dieselbe Dimension. Das Kind bekam einen Namen. Schon bei der ersten Begegnung hatte sie es verspürt, aber jetzt wusste sie, was dieses Empfinden bedeutete. Sie waren seelenverwandt.
»Gott sei Dank, es geht dir gut«, flüsterte er ihr ins Ohr.
Sie hörte den Felsbrocken, der ihm vom Herzen fiel, und wollte antworten, ihm sagen, dass sie sich auch freute, dass es ihm gut ging, aber er drückte seine Lippen fest auf ihre.
Der Kuss schmeckte nach Liebe, nach Sehnsucht und nach Freude. Ihr wurde bewusst, wie sehr sie ihn brauchte. Jetzt. Hier. Die letzten Wochen hatten sie abhängig gemacht. Süchtig nach ihm. Er war der kleine Sonnenstrahl, der es schaffte, sich durch eine Welt voller Finsternis zu bahnen, um ihr Herz zu berühren. Das Rettungsboot, das Kate und Leo auf der Titanic so dringend gebraucht hätten. Die Hoffnung, die nicht hatte wachsen wollen, aber jetzt tiefe Wurzeln in ihre Erde schlug. Er war ihr Vertrauen, ihr Kampfgeist, ihre Menschlichkeit. Der Grund, weshalb sie nicht im Schmerzensmeer dieser Welt ertrank. Während sie sich ihm hingab, fiel ihr etwas ein. Anna rutschte das Herz in die Hose und ihre Sinne klärten sich schlagartig. Erschrocken riss sie sich los und flüsterte so leise sie konnte.
»Was tust du hier? Das ist saugefährlich für dich, wenn sie dich hier sehen …«
»Ich musste wissen, ob es dir gut geht«, unterbrach er ihre aufkommende Panikattacke.
»Sebastian, die Männer sind gefährlicher, als du glaubst, sie haben Druckmittel …«
»Ich weiß«, hauchte er und sah ihr tief in die Augen. »Wen haben sie?«
»Meine Mutter.« Sie schluckte schwer, versuchte, nicht in Tränen auszubrechen. Die ganze Zeit hatte sie dafür gekämpft, stark zu sein. In seiner Gegenwart zerfiel ihre Fassade zu Staub. Schwäche und Angst breiteten sich aus wie immer in seiner Nähe. Vielleicht, weil sie bei ihm so sein durfte, wie sie tatsächlich war. Es tat gut, schwach sein zu dürfen, ein Mädchen. Von der Last auf ihren Schultern fiel ein kleines Stück zu Boden. Wie hatte sie sie so lange allein stemmen können?
»Ich weiß, wo sie die Leute verstecken, ich habe mit einem ehemaligen Hunter gesprochen«, flüsterte er.
»Ich auch.« Sie lächelte zaghaft.
»Wie hast du das angestellt?«
»Ich bin ein Medium, schon vergessen? Aber es gibt Wichtigeres zu besprechen.«
»Ich werde sie befreien. Wer ist mit dir hier?«
»Alle. Paps, Sally, Marla …«
»Marla?« Er klang heiser, als er ihren Namen aussprach und seine Augen begannen zu glänzen. »Mein Vater hat sie nicht getötet?« Seine Schultern bebten.
Anna schüttelte den Kopf und ihm entfuhr ein Aufseufzen. Er hatte sie die ganze Zeit für tot gehalten? Wie schrecklich! Anna griff nach seiner Hand und drückte sie. Sanft strich sie ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Er versuchte, ein Lächeln aufzusetzen.
»Sebastian, ich komme mit dir. Wir werden die Geiseln gemeinsam befreien, außerdem müssen wir die Pergamente finden. Sie sind der Schlüssel, wenn wir etwas gegen den Beirat unternehmen wollen.«
»Und gegen meine Familie«, sagte er traurig, seine Miene gefror zu Eis.
Natürlich fühlte er Trauer. Trotz allem war und blieb es sein Fleisch und Blut. »Ich würde gern widersprechen«, sagte Anna und umschloss sein Gesicht mit den Händen.
Er umklammerte ihre Arme. »Es muss aber sein.«
Sie nickte, obwohl sie wusste, dass es ihm das Herz brach. »Aber ich gehe allein ins Hauptquartier.«
»Auf keinen Fall!« Ihr neues, kämpferisches Ich arbeitete sich zurück an die Oberfläche. »Erstens lasse ich dich nicht wieder allein und zweitens ist es meine Aufgabe.«
»Ich hab aber Angst um dich.«
»Und ich um dich.«
Er öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder und schluckte schwer. »Du musst Marlas Fluch brechen, sie haben ihn ihr einfach gelassen.«
Sebastian nickte. Es schien ihn nicht zu wundern, dass der Beirat aus einer Gruppe kaltherziger Arschlöcher bestand.
»Dann haben wir zumindest jemanden, der hier auf alles ein Auge hat. Die anderen stehen nicht wirklich auf meiner Seite.« Sie rieb sich das Gesicht.
»Ist doch klar, sie haben ja auch recht. Eigentlich wäre es das Vernünftigste, wenn ihr mich auch erledigt.«
Sie erkannte an seinem Blick, dass er die Worte ernst meinte und glaubte. »Dann sterbe ich mit.«
Entgeistert sah Sebastian sie an. Sie verlor sich für Sekunden in seinen eisblauen Augen.
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