Gefaehrlich begabt
denk drüber nach.« Sanft löste sie sich aus der Umarmung und stieg aus dem Auto. Mit schwerem Herzen trug sie ihre Reisetasche zur Haustür. Die Ferien hielten noch eine Woche an und normalerweise verbrachte sie diese bis zum letzten Tag im Norden. Die nächsten Tage würden mit Sicherheit die Hölle werden. Auf die eine oder andere Weise.
In Gedanken versunken schloss sie die Tür auf. Ihr Vater kam ihr bereits entgegen und schob sich an ihr vorbei. Er hob grüßend die Hand aus dem Eingang und Anna hörte, wie ihre Mutter den Wagen startete.
Paps wandte sich ihr zu und nahm ihr die Tasche ab. »Wie war die Fahrt?«
Anna zuckte die Schultern. Was sollte sie darauf antworten? Die Stunden im Auto hatten ihr zu viel Zeit zum Nachdenken beschert.
»Sally hat einen Auflauf gemacht, wenn du Hunger hast …?«
Sie lehnte dankend ab. Der Leichenschmaus lag ihr noch schwer im Magen, außerdem kannte sie Sallys Kochkünste. Mit bleischweren Füßen stieg sie die Treppe hoch in ihr Zimmer und warf sich aufs Bett. Es tat gut, die Glieder auszustrecken.
Ihre Gedanken kreisten um Kevin. Sie hatte sich nicht von ihm verabschiedet. Was er wohl denken mochte? Seine neugierigen Fragen hätte sie größtenteils sowieso nicht beantworten können. Vielleicht hielt er sie auch für verrückt, aber sich darüber länger den Kopf zu zerbrechen, kam ihr sinnlos vor. Sie würden ja doch keinen Sommer mehr zusammen verbringen.
Anna schloss die Augen. Der anstrengende Tag steckte ihr in den Knochen. Sie rollte sich zusammen und schlief dennoch nicht ein. Obwohl sie total groggy war, lag sie noch lange Zeit wach und wälzte sich hin und her. Auf Knopfdruck konnte sie schlecht abschalten. Draußen überzog Dunkelheit bereits das Firmament. Der Mond schien milchig durchs Fenster auf die weiße Zimmereinrichtung und spiegelte sich im Schrank wider. Erst sehr spät glitt Anna in einen traumlosen, aber unruhigen Schlaf.
Verwirrt wachte Anna auf, sie fröstelte. Die Temperatur im Zimmer schien deutlich gesunken zu sein. Oder hatte sich ihre Bettdecke verabschiedet? Sie richtete sich auf. Um diese Jahreszeit hätte sie auch ohne Decke nicht so heftig frieren dürfen.
Das Oberbett lag noch auf ihren Beinen, somit wusste sie sofort, was vor sich ging. Die eisige Kälte beschlich sie vertraut, fraß sich durch die Kleidung in den Körper. Bisher hatte sie das sich anbahnende Unheil erfolgreich unterdrücken können. Seit dem Schimmelreiter war ihr kein Geist erschienen. Einige Seelen versuchten immer wieder, sie heimzusuchen, aber ihr Dickkopf setzte sich letztendlich durch. Der leise Gesang ihrer Begabung verstummte, sobald sie krampfhaft an etwas anderes dachte. Es kostete eine immense Kraft und sie war sich nicht sicher, ob sie nicht eines Tages doch schwach werden würde.
Mit hart klopfendem Herzen und kalten Fingern schaltete Anna das Nachttischlämpchen ein. Das Licht blendete sie im ersten Moment und sie kniff die Augen zusammen. Ein verschwommener Blick auf den Wecker verriet, dass die Zeiger gerade mal drei Uhr anzeigten, mitten in der Nacht. Mühsam blinzelnd zog sie die Decke über ihre Schultern und sah sich im Zimmer um.
»Da ist nichts«, versuchte sie, sich einzureden. Sie erkannte die Atemwolke vor ihrem Gesicht. Das verhieß gewiss nichts Gutes.
Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gedacht, hörte sie die leise Melodie erklingen. Wie auch in den vergangenen Tagen versuchte Anna, die Situation mit Ignoranz aufzulösen. Sie legte sich zurück in die Kissen, schloss die Augen und ließ den Tag Revue passieren, doch ihr Herzschlag lenkte sie immer wieder ab. Sie begann, laut vor sich hinzuzählen, diese Methode musste klappen.
»Anna?«
Sie zuckte zusammen. Eva, sie erkannte sie sofort. Unter Tausenden hätte Anna sie herausgehört. Es brach ihr augenblicklich das Herz. Sie hatte befürchtet, dass der Tag kommen würde.
Ob sie einen Blick riskieren sollte? Ihre bisherigen Prinzipien über Bord werfen? Immerhin gehörte die Stimme Eva, ob Geist oder nicht. Unschlüssig grub sie das Gesicht noch tiefer in die Kissen.
»Anna, bitte sieh mich an.«
Sie hatte noch nie mit einem Toten gesprochen und sie war auch nicht sonderlich scharf darauf. Aber wie konnte sie Eva etwas abschlagen? Zu Lebzeiten hatte Eva ihr jeden Wunsch erfüllt. Obwohl sie sicher wusste, dass sie genau das nicht erleben wollte, berührte sie Evas Anwesenheit tief in der Seele. Sie doch noch einmal sehen zu dürfen, vielleicht konnte ihr das helfen?
Mit
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