Gefaehrlich begabt
in seine Arme. Lange Zeit hatte er sich nicht wie ein Vater verhalten und sie dankte ihm im Stillen, dass er es jetzt tat.
»Sie war hier.« Anna brachte kaum ein Wort über die Lippen, der Satz ging in Tränen unter.
»Du hast geträumt, alles ist gut«, sagte ihr Vater leise und strich ihr liebevoll durchs Haar.
»Was ist denn los?« Sally betrat das Schlafzimmer und zog fröstelnd ihren Bademantel enger. »Wieso ist es hier so kalt?«
Anna blickte nicht auf, während Sally überprüfte, ob die Fenster geschlossen waren.
»Geh schlafen. Anna hat bloß schlecht geträumt«, forderte Paps seine Freundin auf. Normalerweise schickte er Sally nicht fort, schon gar nicht, um Zeit mit Anna zu verbringen. Sallys Schritte waren schon wieder bei der Treppe angelangt, als sich Anna aus seinen Armen löste.
»Wieder gut?«, fragte ihr Vater.
Sie nickte und wischte sich die Tränen aus den Augen. Natürlich war nichts gut, aber was sollte sie ihm sagen? Wenn sie die Wahrheit ausplauderte, lief sie Gefahr, in einer Nervenklinik zu landen. Paps wusste doch nichts von Talenten und Geistern. Ein Gedanke kreuzte die Überlegungen. Um die, die sie liebte, beschützen zu können, musste sie die magische Welt von ihnen fernhalten. Sie war nicht zauberhaft, sie war abgrundtief böse.
Entschlossen sah sie ihren Vater an. »Geh wieder ins Bett.«
»Soll ich dir erst mal einen Tee kochen?«
Heftig schüttelte sie den Kopf. »Ich will allein sein. Leg dich wieder hin.«
»Bist du sicher?«
Anna sah ihm an, dass er sie nur ungern allein ließ. »Ja, ganz sicher.«
Es brach ihm wahrscheinlich das Herz, aber er konnte ohnehin nichts ausrichten. Kein Knopf dieser Welt konnte Trauer auf Kommando ausschalten. Um die Beherrschung zu wahren, schnäuzte sie laut in ein Papiertaschentuch.
Ihr Vater erhob sich. »Wenn was ist, weck mich aber. Okay?«
»Ja, okay.«
Er sah unglücklich aus, doch er verließ ihr Zimmer. Annas Kopf schwirrte und sie atmete tief durch. Was gerade geschehen war, wollte sie nicht begreifen.
Mit zittrigen Knien stand sie auf und ging in das kleine Badezimmer. Es gehörte ihr allein. Die schreckliche Kälte verzog sich allmählich, aber sie steckte noch tief in ihren Gliedern. Anna riss sich zusammen und schmiss die Dusche an. Vielleicht half das warme Wasser, wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
Das warme Wasser belebte sie tatsächlich und die gewünschte Wirkung trat ein. Langsam beruhigten sich Annas Nerven. Sie blieb zehn Minuten unter der Brause stehen, ohne sich auch nur einmal zu bewegen.
In ein Handtuch gewickelt wischte sie den beschlagenen Spiegel sauber. So heiß duschte sie sonst nie, erst recht nicht im Sommer.
Ihr Anblick erschreckte sie im ersten Moment. Sie sah schlimmer aus, als sie befürchtet hatte, doch nicht die krebsrote Haut ließ sie erschaudern. Ihre dunkelblauen Augen blickten wachsam und ängstlich, tiefe Schatten zeichneten sich dick unter ihnen ab. Ihre Wangen wirkten eingefallen und ihre sonst so vollen Lippen hatten sich selbstständig zu einem schmalen Strich verzogen. Sie sah älter aus, über Nacht schien sie um zehn Jahre gealtert. Ihre kindlichen Rundungen waren verschwunden, bestimmt hatte sie in den vergangenen Tagen ein paar Pfund abgenommen. Verstört wandte sie den Blick vom Spiegel ab und bürstete sich die Haare.
Im Frotteemantel betrat sie das Schlafzimmer. Ihr Blick blieb an der Reisetasche hängen. Ihr Vater musste sie nach oben getragen haben, während sie schlief.
Marlas Nummer hatte sie zusammengeknüllt in das Seitenfach gesteckt, eigentlich überzeugt davon, sie nicht zu gebrauchen. Ob sie die Frau um diese Zeit belästigen konnte? Sie hatte jederzeit gesagt und es war sonnenklar, dass Anna dringend ihre Hilfe benötigte.
Sie sprach sich gut zu und fischte das kleine Stück Papier aus der Tasche. Mit nervösen Fingern gab sie die Zahlen in ihr Handy ein. Es klingelte eine Weile und sie spielte mit dem Gedanken, wieder aufzulegen. In letzter Sekunde meldete sich eine verschlafene Frauenstimme.
»Hallo?«
Anna gab sich einen Ruck und widerstand der Versuchung, das Handy fortzuschmeißen. »Marla? Hier ist Anna.«
7. Kapitel
Auf den ersten Blick
E s gab Situationen im Leben, da musste man über seinen Schatten springen. Die Überwindung, die es Anna kostete, sich auf den Weg zu machen, ließ sie eindeutig über den eines Elefanten hüpfen. Oder den einer Herde.
Marla wohnte etwas außerhalb von Köln, aber nicht weit von Annas Zuhause entfernt. Die
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