Gefaehrlich begabt
Die schwarz gekleidete Frau vom Friedhof stand hinter ihr und nahm den Schleier ab.
Weil Anna gegen die Sonne blinzeln musste, sah sie kaum etwas. Die Frau kam um sie herum und kniete sich hin. Anna empfand das Gesicht als auffallend schön. Dunkelbraune Locken fielen der Frau weit über die Schulter, und obwohl sie mit Sicherheit die Vierzig schon überschritten hatte, blickten ihre großen Augen kindlich und neugierig. Das Bild rundete eine Tätowierung ab, ein Stern prangte auf ihrer Stirn. Sie wirkte mystisch und mütterlich zugleich.
Es handelte sich um eine Talentierte. Anna erkannte und spürte es sofort, obwohl sie außer Eva niemanden mit einer Gabe kennengelernt hatte.
Lächelnd hielt ihr die Frau eine Lavendelblüte hin. »Mein Name ist Marla und es tut mir unsagbar leid.«
Anna nahm die Blume entgegen. Ihr Mitgefühl klang ehrlich. »Danke.«
Marla setzte sich neben sie und richtete den Blick auf das Meer. »Kommst du zurecht?«
»Ob ich zurechtkomme?«
»Mit Evas Gabe. Du bist ihre Erbin, oder?«
Kevin riss erschrocken die Augen auf, Anna sah es in den Augenwinkeln. Er dachte mit Sicherheit, er hätte sich verhört.
»Nein«, antwortete Anna wahrheitsgemäß. »Ich komme nicht zurecht, ich will es auch nicht. Ich will dieses Talent nicht mehr haben.«
»Es ist schwer, das glaube ich dir. Aber deine Trauer wird vergehen und es gibt einen Grund, weshalb Eva dich als Erben gewählt hat. Sie hat dir vertraut«, sprach Marla mit ruhiger, ernster Stimme.
»Aber die Gabe ist schuld daran, dass sie tot ist. Hätte sie den Geist nicht beschworen …«, platzte es aus ihr hinaus. Sie konnte den Gedanken nicht zu Ende führen, denn es tat zu weh.
»Es ist während einer Séance passiert?«
Anna nickte. »Ja, aber weshalb erzähle ich Ihnen das überhaupt? Wer sind Sie?«
»Mein Name ist Marla Cole. Du brauchst mich nicht zu siezen.«
»Sind Sie eine Freundin von Eva?« Anna sträubte sich, sie beim Vornamen zu nennen.
»Nein, wir kannten uns nur flüchtig. Ich bin eine Hexe und am Tag ihres Todes kam ich mit einem Anliegen zu ihr.«
»Sie sind die Frau des Empathen!« Anna ließ den Mund offen, um noch etwas hinzuzufügen, doch es verschlug ihr die Sprache. Wie konnte Marla es wagen, hier aufzutauchen?
»Du weißt also, worum es ging?«
Kevin richtete sich auf. »Was wollen Sie von Anna?« Ihm musste aufgefallen sein, dass sie nervös wurde. Schützend stellte er sich vor sie.
»Vielleicht können wir allein weitersprechen?«, fragte Marla.
»Kevin, bitte lass uns allein.«
»Aber …?«
»Bitte. Geh ins Restaurant zu meiner Mutter und sieh nach, wie es ihr geht. Sag, ich will kurz allein sein.«
Ohne ein weiteres Wort, aber mit besorgter Miene, verschwand Kevin über die Wiese in Richtung des Dorfes.
Anna stand auf. »Gehen wir ein Stück?«
Marla lächelte und folgte ihr zum Wasser.
»Ihr Mann hat meine Tante getötet.« Es klang nicht so hart, wie sie beabsichtigt hatte, denn ihre Stimme versagte bei den Worten. Ihr kam der Gedanke, dass sie vielleicht Angst haben sollte. Vielleicht war die Hexe gefährlich?
Allerdings strahlte die zierliche Person so viel Wärme aus, dass sie es sich nur schwer vorstellen konnte.
Irritiert von ihren gemischten Gefühlen blieb sie stehen und blickte der Frau ins Gesicht. Eine Träne verlor sich aus dem Augenwinkel der Hexe. »Du glaubst, Frank hätte das getan?«
»Wer sonst? Meine Tante hatte keine Feinde.«
»Mein Mann auch nicht«, antwortete Marla mit trauriger Stimme.
Anna errötete und biss sich auf die Unterlippe. Sie benahm sich ungerecht. Auch die Hexe hatte einen geliebten Menschen verloren, vielleicht saßen sie im selben Boot.
»Tut mir leid, aber es spricht so viel dafür«, erwiderte sie leise.
Marla schüttelte zaghaft den Kopf. »Nein, es spricht nichts dafür. Der Rechtsbeirat suchte mich auf, nachdem sie die Telefonliste überprüft hatten.«
»Der Rechtsbeirat?« Anna kam der Name bekannt vor. Sie glaubte, sich zu erinnern, dass Eva gesagt hatte, er trete für die Rechte und Gesetze der Begabten ein.
»Natürlich. Sie haben sich der Sache ebenfalls angenommen. Genau wie du sind sie im ersten Moment von einem Rachegeist ausgegangen.«
»Ein Rachegeist? Was soll das sein?«
Sanft griff die Fremde nach ihrer Hand, ihre Augen blickten besorgt. »Siehst du. Das ist der Grund, warum ich hier bin. Der Rechtsbeirat kam zu mir und erzählte von dem Mord. Sie waren sicher, dass Eva nicht durch einen Geist gestorben ist. Und dann
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