Gefaehrlich begabt
einen Schlag dunkel wurde. Anstelle des Fisches lag ein alter Mann auf dem Holzboden. Ein kleiner Schrei entfuhr ihr.
Der Mann sah sie mit verwirrtem Blick an, sein Brustkorb hob und senkte sich schwer. Er japste nach Luft und schüttelte sich. Sein Bart und sein Haar reichten ihm bis weit unter die Brust, hingen in fettigen Strähnen hinab. Ein bisschen erinnerte er an den Weihnachtsmann.
Sie richtete sich auf, aber es fiel ihr schwer, die weichen Knie durchzudrücken. Auf wackligen Beinen schwankte sie zu Sebastian und stellte sich hinter ihn. Ihr Gehirn verarbeitete das Gesehene nur langsam.
»Was hat mich verraten?« Die Stimme des Alten klang rau und kehlig.
»Deine Gefühle, mein Freund.« Sebastian trat auf den Fischmann zu und bot ihm die Hand an.
»Diese elenden Empathen. Ihr seid fast so schlimm wie die Gedankenleser, aber die kann man wenigstens noch verwirren«, knurrte der Alte, zog sich aber an Sebastians Hand hoch.
Sebastians Schultern bebten vor Lachen. »Darf ich euch bekannt machen? Anna, das ist der Kapitän.«
Noch immer wollte sie nicht glauben, was sie gesehen hatte. Ihre Augen mussten ihr einen Streich gespielt haben. Der Mann streckte die Hand aus. Es kostete Überwindung, sie zu schütteln.
»Der Kapitän ist ein Gestaltwandler. Ich habe gehört, wie erstaunt du in einem Gespräch mit Marla geklungen hast, als sie dir von dieser Gabe erzählte. Also dachte ich, ihr solltet euch dringend kennenlernen.«
»Kommt rein, wir genehmigen uns einen Schluck.« Der Kapitän bewegte sich zum Eingang des Hausbootes und deutete ihnen, zu folgen.
Annas Beine wollten nicht gehorchen, es fühlte sich an, als bestünden sie aus purem Gummi. Sebastian griff nach ihrer Hand und zog sie mit sich, dass sie ihm nachstolperte. Seine kalten Finger verwirrten sie noch eine Spur mehr, aber es überraschte sie angenehm, dass er sie so intensiv berührte. Sie widerstand dem Impuls, wie ein Honigkuchenpferd zu grinsen, und allmählich beruhigte sich ihr aufgewühltes Gemüt.
Eine Eichentreppe führte ins Innere des Bootes. Die Kajüten wirkten beengt und der Kapitän hatte eindeutig zu viele Möbel gesammelt.
»Zwei Zimmer«, warf der Alte stolz ein. Er humpelte zur Küchenzeile und zog das rechte Bein nach. »Setzt euch.«
»Sprechen wir gerade mit einem Fisch?«, flüsterte sie Sebastian zu.
Er lachte und schob sie auf eine Rundbank. Mit drei Gläsern und einer Cognacflasche beladen gesellte sich der Kapitän zu ihnen an den Tisch. Anna schüttelte energisch den Kopf und schob das Glas vor sich zur Seite. Ihr Vorsatz, nie wieder Alkohol zu trinken, galt. Um diese Uhrzeit keimte die Übelkeit allein beim Gedanken daran schon auf.
»Anna ist ein Medium«, erklärte Sebastian.
»So, eine Totenbeschwörerin.« Der Kapitän musterte sie.
Anna konzentrierte sich auf den Tisch. »Noch nicht sehr lange, ich befinde mich noch auf Neuland«, sagte sie leise.
»Wir haben auf eine Kostprobe deiner Fähigkeiten gehofft. Der Fisch ist doch längst nicht alles, was du draufhast?« Sebastian schenkte ihm ein Lächeln und seine Augen zwinkerten vergnügt.
»Er versucht, dir zu imponieren. Du solltest es mit deinen eigenen Talenten versuchen, mein Freund.«
»Meine Begabung ist längst nicht so imposant.«
»Ich würde gern sehen, was Sie sonst noch können.« Anna grinste. Nach und nach verabschiedete sich das beklemmende Gefühl. Neugier überkam sie.
Der alte Mann kippte sein Getränk hinunter. »Ich habe eine Idee. Leider schaffe ich es wohl nicht mehr allzu lange, meine Gestalt zu wechseln.«
»Man verliert an Stärke?« Bisher war sie davon ausgegangen, dass es sich andersherum verhielt. Sie folgten dem Kapitän vom Hausboot und er sprach im Gehen weiter.
»Natürlich, Mädchen. Wenn du alt wirst, wollen deine Augen nicht mehr so richtig und auch das Hören fällt dir schwer. Dein Herz ist nur noch halb so belastbar und du läufst keinen Marathon mehr. Wieso sollte es uns mit unseren Talenten anders ergehen?«
»Verstehe.«
»Nein, du verstehst nicht, und das ist auch gut so. Du bist jung und du solltest dein Leben genießen, solange es noch lebenswert ist.«
Stumm liefen sie den Rhein entlang und Anna ließ das Gehörte in sich nachklingen. Sie gehörte zu den Grüblern. Normalerweise plante sie jeden Schritt. Genüsslich in den Tag hineinzuleben lag ihr fern.
An einer abgelegenen Stelle stoppte der Kapitän, sie lief beinahe in ihn hinein. »Siehst du die Möwe, Mädchen?«
Er deutete auf einen
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