Gefaehrlich begabt
Magier fühlten nicht menschlich. Es konnte nicht sein und vor allen Dingen durfte es nicht sein.
Wie sollte er sie eines Tages töten?
Sebastian fuhr kurz an und lenkte den Wagen an den Straßenrand, er fühlte sich außerstande, weiterzufahren. Er raufte sich die Haare und legte seinen summenden Kopf auf das Lenkrad. Fast eine Woche lang hatte er sich von Marlas Haus, und somit auch von ihr, ferngehalten. Er brauchte eine Auszeit von dem Talent. Aber es gab keine Auszeit. Hätte die Gabe nicht verstummen sollen, wenn sich kein menschliches Wesen bei ihm befand? Doch sie verstummte nicht, sie ließ ihm keine Zeit zum Aufatmen. Pausenlos schwirrte Anna in seinem Kopf herum und er wollte dauernd nur eines – bei ihr sein.
Anna bewirkte, dass er sich unglaublich fühlte, beinahe menschlich. Durch ihre warmherzige, auf charmante Weise trottelige Art, empfand er wie noch nie zuvor in seinem Leben. Und wenn er das dachte, dann bedeutete es etwas, denn er lebte schon ein Jahrhundert lang. Nichtsdestotrotz musste er dieser Gefühle Herr werden, das bescheuerte Talent durfte ihn nicht länger kontrollieren. Den Namen Fingerless zu tragen, brachte einige Pflichten mit sich und beileibe … Kira verdiente ihn schon fast mehr als er. Ein Magier konnte nicht von einem Talent beherrscht werden, allein der Gedanke erschien absurd.
Eine Träne perlte aus seinem Augenwinkel und lief die Wange hinunter. Weinte er? Es verwirrte ihn, denn es entsprach nicht seiner Natur. Benommen richtete er sich auf und fuhr sich über das Gesicht. Das bewies so viel. Es musste Schluss sein mit der Gefühlsduselei, er mutierte sonst noch zu einem Menschen.
Seine Gedanken gaben neue Kraft, überzeugten. Er startete den Wagen. In unerlaubter Geschwindigkeit raste er weiter in Richtung seiner magischen Familie.
*
Der blaue Himmel trug ein paar gräuliche Schleierwolken, als Anna Marlas Veranda betrat. Marla hatte es sich auf der Terrasse bequem gemacht und las die Tageszeitung. Mit der Lesebrille auf der Nase, die sie, wie sie sagte, nur aus modischen Zwecken trug, besaß sie Ähnlichkeit mit einer Studentin. Zumindest stellte sich Anna vor, sie würde so aussehen, wenn sie die Schulzeit hinter sich gebracht hatte.
»Du bist früh dran«, begrüßte Marla sie.
»Ja, Sebastian und ich waren am Rhein und er hat mich bei dir abgesetzt.«
Marla grinste in sich hinein. Dass sie die Schule geschwänzt hatte, verschwieg Anna lieber. Marla hieß solche Dinge bestimmt nicht gut.
»Wollen wir anfangen?«
Annas Magen rumorte. Der Eintritt in die Schattenwelt bereitete ihr mittlerweile keine Probleme mehr, sie entwickelte eine gewisse Routine. Sie gewöhnte sich an den Ort und die Schattenwesen. Aber einen Geist aus dem Jenseits zu locken, ließ sich damit nicht vergleichen. Ihre bislang einzigen beiden Begegnungen mit einem Verstorbenen erinnerten sie an einen Horrorstreifen aus dem Kino.
»Okay«, antwortete sie. Es brachte ja nichts, davonzulaufen.
Marla führte sie ins Haus, sie nahm die Zeitung mit. »Mir ist eine Idee gekommen und vielleicht bringt sie uns weiter.«
»Was meinst du?«
»Ich habe heute Morgen von dem Tod eines kleinen Feuerlegers erfahren, die Morde gehen weiter.«
Sie hielt ihr den Artikel hin. Der Anblick ließ Übelkeit aufsteigen. Anna sah zwar keine Leiche, aber Unmengen von Blut. Das rot getränkte Zimmer erinnerte an Evas Tatort. Annas Eingeweide zogen sich schmerzlich zusammen, als würden Eiszapfen zustechen. Lange hatte sie die Tatsache verdrängt, dass sie nicht bloß zum Spaß an den Fähigkeiten feilten. Sie mussten sowohl Eva von ihrer Rachsucht befreien als auch erfahren, wer sie getötet hatte.
»Wieso unternimmt der Rechtsbeirat nichts? Denen muss doch auch auffallen, dass etwas Schlimmes vor sich geht.«
»Sie sehen keinen Handlungsbedarf. Sie glauben, dass ein normaler Mensch der Mörder ist. Für deren Rechtsprechung sind sie nicht zuständig.«
»Aber offensichtlich hat es dieser Mensch auf Begabte abgesehen.«
»Sie haben ihre Prinzipien. Ich hoffe, dass wir etwas herausfinden können.« Wirklich glücklich über die Passivität der Gesetzeshüter klang Marla auch nicht.
»Und was soll ich tun?«
Marla drückte ihr ein Bild in die Hand. Es handelte sich um eine alte Schwarz-Weiß-Fotografie. Sie zeigte eine ältere Frau.
»Wer ist das?«
»Emily Roseberg. Sie war in ihrer Zeit ein stark talentiertes Medium.«
»Und wie soll sie uns helfen können?«
»Du wirst sie fragen, ob es eine
Weitere Kostenlose Bücher