Gefaehrlich sexy
schon spät sein muss, weil es draußen stockdunkel ist und die Straßenlampen eingeschaltet sind. Ich versuche, den Kopf zu heben, aber bei der winzigsten Bewegung dröhnt mein Schädel so, dass mein Puls anfängt zu rasen und der Magen revoltiert. Ich schlucke die Galle herunter, die in meiner Kehle aufsteigt, doch dadurch nimmt der eklige Geschmack im Mund noch zu.
Ich sehe mich zwischen den leeren Essenskartons nach einer Flasche Wasser um, richte mich auf, um einen Schluck zu trinken, und rutsche so vorsichtig vom Sofa, dass weder Aerie noch Serena etwas davon mitbekommen. Meine Schläfen pochen, doch mein Herz ist völlig aus dem Takt. Mein Zorn auf River hat sich aufgelöst. Mir ist bewusst, dass wir über die Dinge reden müssen, die an diesem Morgen vorgefallen sind. Ja, natürlich war ich sauer, weil er mir etwas verschwiegen hat, aber schließlich hatte Grace ihn ausdrücklich darum gebeten. Das ist mir inzwischen klar, und ich bin jetzt bereit zu reden und muss hoffen, dass auch er es ist.
Auf dem Weg durchs Haus fällt mir automatisch wieder ein, dass ich in den Jahren nach Bens Tod vollkommen allein war. Es tut mir in der Seele weh, daran zurückzudenken, dass ich das Gefühl hatte, ganz auf mich gestellt und völlig isoliert zu sein. Dass meine Trauer nicht den allerkleinsten Raum für Hoffnung ließ. Ich wünschte mir, ich könnte diese Jahre und vor allem den Tribut, den ich dafür gezahlt habe, mit einem Handstreich auslöschen, doch mir ist klar, dass das nicht geht.
Als ich die Haustür öffne, um zu gehen, fällt mein Blick auf das verfluchte Schlüsselbrett, an dem immer noch Bens Schlüssel hängt. Warum zum Teufel habe ich den nie entsorgt? Ich schüttle den Kopf und trete in die kühle Dunkelheit hinaus. Als ich zu meinem Wagen komme, sehe ich das Blatt Papier, das hinter dem Scheibenwischer klemmt, und weiß sofort, es ist von Ben. Er hat es auf genau dieselbe Art gefaltet wie die vielen anderen Zettel, die er im Lauf der Zeit für mich geschrieben hat – während unserer kurzen dreimonatigen Trennung, als ich dachte, dass er mich betrügt, hat er jede Menge solcher Nachrichten für mich verfasst.
Ich falte den Zettel auseinander und lese die kurzen, doch prägnanten Sätze durch.
Es tut mir leid. Ich vermisse Dich. Ich liebe Dich. Lass mich mit Dir reden.
Ben
Ein Gefühl der Bitterkeit steigt in mir auf. Will er mich verarschen? Das, was er getan hat, werde ich ihm nie verzeihen. Er hat sich entschieden, er hat mich im Stich gelassen, und jetzt, da ich endlich wieder glücklich bin, bildet er sich ein, wir könnten einfach so wie früher weitermachen. Aber das können wir nicht. Und selbst wenn wir es könnten … ich will es ganz einfach nicht. Denn ich liebe River. Das ist eine Tatsache, die ich nicht ändern kann und will.
Und plötzlich weiß ich, was ich tun muss – ich muss einen endgültigen Schlussstrich unter das alles ziehen und darf Ben nie wiedersehen. Ich reiße die untere Zettelhälfte ab, stopfe die andere Hälfte in die Tasche meines Sweatshirts, öffne die Wagentür, suche einen Stift und schreibe eine kurze Nachricht an Serena, dass das Haus jetzt Ben gehört. Denn es war schon nicht mehr unser Haus, seit er einfach abgehauen ist. Mich kann er nicht wiederhaben, aber meinetwegen unser Haus.
Ich gehe wieder rein und lege den Zettel und Bens Schlüssel auf den Fußboden im Flur. Als ich mich wieder zum Gehen wende, höre ich das Windspiel, und ich weiß, dies ist das allerletzte Mal, dass ich in diesem Haus gewesen bin. Denn es ist nicht mehr unser oder mein Zuhause, sondern nur noch das von Ben. Mein Zuhause ist inzwischen in L. A., und dort fahre ich jetzt hin.
*
Auf der Fahrt versuche ich herauszufinden, was genau der Unterschied zwischen Verschweigen und Belügen und zwischen Vertrauen und Verzeihen ist. Ich weiß, dass River mir nicht aus Gemeinheit, sondern einfach, weil er mich beschützen wollte, etwas Wichtiges verschwiegen hat. Ben hat mich durch seine Lüge hoffnungslos verstört, verändert und mir das Gefühl gegeben, vollkommen allein zu sein. River aber hat dadurch, dass er mir etwas nicht gesagt hat, nichts von alledem getan. Deshalb denke oder hoffe ich, dass ich ihm noch mal verzeihen und vor allem auch weiterhin vertrauen kann. Aber warum ist es so viel schwerer, unsere Probleme anzusprechen, als einfach vor ihnen abzuhauen?
Als ich in die Einfahrt biege, steht Xanders Mercedes direkt vor der Eingangstreppe. Es ist ein Uhr nachts, und
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