Gefährliche Begierde
»Ihr Nachbar? Haben Sie ihn festgenommen?«
»Das Auto war gestohlen, Chase. Sie wissen, wie das hier so geht. Die Leute lassen die Schlüssel stecken. Wir fanden den Wagen unten an der Pier.«
Chase lehnte sich verblüfft zurück. »Also ist der Fahrer nicht aufzufinden«, sagte er. »Jetzt sieht es erst recht danach aus, als hätte er versucht, sie umzubringen.«
»Es bedeutet nur, dass irgendein Verrückter sich einen Spaß machen wollte. Hatte seine Hände an diesem Steuer, wurde von den PS überwältigt und übermütig und trat zu stark aufs Gaspedal.«
»Lorne, der war da draußen, um sie umzubringen.« Lorne setzte sich aufrecht hin und sah ihm in die Augen. »Und weshalb waren Sie da draußen?«
»Um die Wahrheit zu erfahren.«
»Sie glauben also nicht, dass sie es getan hat?«
»Ich habe ein paar Dinge gehört, Lorne. Ein paar Namen, ein paar Motive. Tony Graffam, zum Beispiel.«
»Wir haben das überprüft. Graffam war nicht auf der Insel, als Ihr Bruder getötet wurde. Ich habe ein halbes Dutzend Zeugen, die das bestätigen.«
»Er könnte jemanden angeheuert haben.«
»Graffam steckte in großen Schwierigkeiten wegen dieses Nordküsten-Landentwicklungsprojektes. Es liegen Anklagen wegen Bestechung der Planungskommission vor. Der Artikel wäre möglicherweise der letzte Nagel an seinem Sarg gewesen. Trotzdem, wie passt das mit dem zusammen, was heute Nacht passiert ist? Warum sollte er hinter Miranda Wood her sein?«
Chase wusste keine Antwort auf diese Frage. Er konnte ebenfalls kein Motiv erkennen. Vielleicht gab es noch mehr Menschen in der Stadt, die Miranda Wood nicht mochten, aber wer würde sich wirklich die Mühe machen, sie umzubringen?
»Vielleicht suchen wir am falschen Ende«, sagte Chase.
»Lassen Sie mich eine grundsätzlichere Frage stellen. Wer hat die Kaution gestellt? Irgendwer wollte sie so dringend draußen haben, dass er einhunderttausend Dollar aufgebracht hat.«
»Ein heimlicher Verehrer?«
»Im Gefängnis ist sie sicher. Draußen aber gibt sie eine hervorragende Zielscheibe ab. Haben Sie eine Idee, wer sie freigekauft hat, Lorne?«
»Nein.«
»Die Spur des Geldes könnte verfolgt werden.«
»Ein Anwalt wickelte den Geldtransfer ab. Alles in bar. Es stammte von einem Bostoner Konto. Nur die Bank kennt die Identität des Kontoinhabers. Und die sagen nichts darüber.«
»Laden Sie jemanden von der Bank vor. Finden Sie den Namen des Kontoinhabers heraus.«
»Das wird einige Zeit dauern.«
»Tun Sie es, Lorne. Bevor noch mehr passiert.«
Lorne ging zum Waschbecken und spülte seine Kaffeetasse aus. »Ich verstehe immer noch nicht, warum Sie sich da einmischen«, sagte er.
Chase wusste die Antwort selber nicht. Erst heute morgen hatte er Miranda Wood hinter Gittern sehen wollen. Und jetzt war er sich nicht mehr sicher, was er wollte. Dieses unschuldige Gesicht, ihr vehementes Abstreiten der Tat, irritierten ihn zu sehr.
Er sah sich in der Küche um und dachte, dass sie nicht wie die Küche einer Mörderin aussah. Da hingen Pflanzen neben dem Fenster, um die sich offensichtlich liebevoll gekümmert wurde. Die Tapete war mit zierlichen Wildblumen vor einem eierschalfarbenen Hintergrund bedruckt. Am Kühlschrank hingen Schnappschüsse von zwei kleinen Jungen – Neffen, vielleicht? –, ein Terminplan der Treffen des hiesigen Gartenvereins und eine Einkaufsliste. Am Ende der Liste stand »Zimttee«. Welche Art von Getränken würde eine Mörderin trinken? Er konnte sich Miranda nicht mit einem Messer in der einen und einem Kräutertee in der anderen Hand vorstellen.
Chase schaute sich immer noch um, als Dr. Steiner in die Küche schlurfte. Manche Dinge auf dieser Insel änderten sich nie, und dieser alte Miesepeter war eines davon. Er sah haargenau so aus, wie Chase ihn aus seiner Kindheit kannte, sogar bis hin zu dem zerknitterten braunen Anzug und der Arzttasche aus Krokodilleder. »So ein Gehabe, so etwas Unnötiges«, sagte der Doktor missbilligend, »für eine lächerliche Muskelzerrung.«
»Sind Sie sicher?« fragte Chase. »Sie war eine Minute lang ziemlich benommen. Gleich nachdem das passiert war.«
»Ich habe sie mir genau angeschaut. Ihr fehlt nichts, medizinisch gesehen. Behalten Sie sie heute nacht im Auge, junger Mann. Und stellen Sie sicher, dass sie nicht in Schwierigkeiten kommt. Sie wissen schon, Kopfschmerzen, doppelt sehen, Verwirrung …«
»Ich kann nicht.«
»Was können Sie nicht?«
»Ich kann nicht hier bleiben und auf sie aufpassen.
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