Gefährliche Begierde
noch, dass ich ihn getötet habe, oder nicht?«
Seufzend fuhr er sich mit den Fingern durch das Haar.
»Ich weiß nicht, was ich noch denken soll. Über Sie oder über irgendwen. Ich weiß nur sicher, was ich heute Abend sah. Und es hat alles miteinander zu tun, das ganze blutige Durcheinander. Es muss miteinander zu tun haben.«
Er sieht so müde aus, so durcheinander
, dachte sie.
Beinahe so durcheinander wie ich.
»Vielleicht sollten Sie ein paar Tage lang woanders wohnen«, schlug er vor. »So lange, bis die Dinge geklärt sind.«
»Wo soll ich hingehen?«
»Sie müssen doch Freunde haben.«
»Ich hatte.« Sie wandte ihren Blick von ihm ab. »Zumindest dachte ich das, aber es hat sich alles geändert. Wenn ich ihnen auf der Straße begegne, grüßen sie mich nicht einmal oder sie wechseln die Straßenseite und tun so, als ob sie mich nicht gesehen hätten. Das ist das Schlimmste von allem, weil ich langsam anfange zu denken, ich existiere überhaupt nicht.« Nun blickte sie ihn an. »Das ist eine sehr kleine Stadt, Chase. Entweder man passt sich an oder man gehört nicht dazu. Und es gibt keine Möglichkeit, dass eine Mörderin jemals dazugehören könnte.« Sie lehnte sich ins Polster zurück und starrte an die Decke.
»Außerdem ist das mein Haus. Mein Haus. Ich habe wie verrückt gespart, um mir die Anzahlung leisten zu können. Ich werde es nicht verlassen. Es ist nicht groß, aber wenigstens gehört es mir.«
»Das kann ich verstehen. Es ist ein schönes Haus.«
Er klang zwar aufrichtig, aber dennoch empfand sie seine Worte als herablassend. Der Gutsherr pries den Charme einer Schäferhütte.
Plötzlich verärgert, richtete sie sich auf. Die abrupte Bewegung sorgte dafür, dass das Zimmer sich um sie herum zu drehen und es in ihrem Kopf zu pochen begann. Sie fasste sich mit beiden Händen an den Kopf, darauf wartend, dass der Schwindel vorüberging.
»Hören Sie, lassen Sie uns offen miteinander reden«, murmelte sie. »Es ist nur ein Cottage mit vier Zimmern. Der Keller ist feucht, die Wasserleitungen quietschen, und es gibt ein Leck im Dach über der Küche. Es ist nicht die Chestnut Street.«
»Um ehrlich zu sein«, sagte er in ruhigem Ton, »Ich fühlte mich in der Chestnut Street nie zu Hause.«
»Warum nicht? Sie sind dort aufgewachsen.«
»Aber es war kein richtiges Zuhause. Nicht wie dieses Haus.«
Sie schaute verblüfft zu ihm auf. Es traf sie, wie rau und kantig er wirkte, ein dunkler, zerzauster Fremder, der in ihrem mauvefarbenen Sessel noch klobiger schien. Nein, es stimmte, dieser Mann passte nicht ganz in die Chestnut Street. Er gehörte in die Docks oder auf das windige Deck eines Schoners und nicht in ein stickiges viktorianisches Wohnzimmer.
»Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass Sie ein Cottage in der Willow Street dem Familienanwesen vorziehen würden.«
»Ich vermute, es klingt … ich weiß nicht … kitschig. Aber es ist wahr. Wissen Sie, wo ich als Kind die meiste Zeit verbrachte? Im Türmchen, wo ich mit Koffern und alten Möbeln herumspielte. Das war der einzige Ort in diesem Haus, an dem ich mich wohl fühlte. Der einzige Raum, den nie jemand aufsuchte.«
»Sie klingen wie der Außenseiter der Familie.«
»Auf gewisse Art war ich das.«
Sie lachte. »Ich dachte, alle Tremains gehörten per Definition dazu.«
»Man kann einen Familiennamen haben und trotzdem kein Teil davon sein. Oder haben Sie sich noch nie so gefühlt?«
»Nein. Ich war immer ein Teil meiner Familie. Was an Familie da war.« Ihr Blick driftete zum Klavier, wo eine gerahmte Fotografie ihres Vaters stand. Es war ein grobkörniges Foto, eines der wenigen, die sie von ihm besaß. Sie hatte es selbst mit ihrer alten Kodak Brownie aufgenommen. Er, ein kahler, kleiner Gnom im Blaumann, grinste sie über das Verdeck seines Chevys an. Sie stellte fest, dass sie sein Lächeln auf dem Foto erwiderte.
»Ihr Vater?« fragte Chase.
»Ja, in Wirklichkeit Stiefvater. Aber er war in jeder Hinsicht mindestens so wunderbar wie ein richtiger Vater.«
»Ich hörte, er arbeitete in der Fabrik.«
Sie runzelte die Stirn. Es störte sie, dass Chase dieses Detail aus ihrem Leben so selbstverständlich erwähnte. Ein Detail, das ihn überhaupt nichts anging. »Ja«, sagte sie.
»Meine Eltern arbeiteten beide dort. Was haben Sie noch über mich gehört?«
»Denken Sie nicht, dass ich Nachforschungen über Sie angestellt habe.«
»Aber das haben Sie doch, oder nicht? Sie und Ihre Familie haben meinen Namen
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