Gefährliche Begierde
versuchen und alles richtig zu machen.
Ungeduldig bog er um die Ecke, wo er erwartete, sie auf der Bank sitzen zu sehen.
Doch die Bank war leer.
Er ging zum diensthabenden Polizisten hinüber, der damit beschäftigt war, Noahs Haftbericht zu tippen. »Haben Sie gesehen, wo sie hingegangen ist?«
Der Polizist blickte auf. »Meinen Sie Ms. Wood?«
»Ja.«
»Sie ist vor ungefähr, hm, zwanzig Minuten gegangen.«
»Hat sie gesagt wohin?«
»Nee. Ist einfach aufgestanden und weg war sie.«
Enttäuscht ging Chase zur Tür. Du machst es mir nicht leicht, was? dachte er. Dann drückte er die Tür auf und trat in die Nacht hinaus.
Den ganzen Tag schon war Ozzie ruhelos auf und ab gewandert. Letzte Nacht hatte die Anwesenheit der Polizei und das hektische Hin und Her das Tier beinahe verrückt gemacht vor Aufregung. Und nun, einen Tag später, hatte sich diese Aufregung immer noch nicht gelegt. Er war nervös, kratzte an der Tür und tappte winselnd auf dem Holzboden hin und her. Vielleicht bin ich daran schuld, dachte Miss St. John, während sie entnervt auf ihren Hund blickte. Vielleicht überträgt sich meine Unruhe.
Ozzie lag an der Haustür wie ein abgelegter Pelzmantel und starrte sein Frauchen mitleidig an.
»Du«, sagte Miss St. John. »Du bist ein Tyrann.« Ozzie winselte leise.
»Oh, schon in Ordnung«, meinte Miss St. John. »Raus, raus!« Sie öffnete die Tür. Der Hund stürmte hinaus in die Abenddämmerung.
Miss St. John folgte dem Tier die Kiesauffahrt hinunter. Ozzie tanzte herum und dabei wippte sein Fell wie Korkenzieherlocken auf und ab. Wirklich kein schönes Tier, dachte Miss St. John wie jedes Mal, wenn sie spazieren gingen. Dass er schon alleine wegen seines Stammbaums mehrere tausend Dollar wert war, zeigte, wie wenig diese Stammbäume aussagten, und das galt für Menschen ebenso wie für Hunde. Doch, was Ozzie an Schönheit mangelte, machte er durch Energie wett. Er trottete bereits weit entfernt von ihr den Pfad zum Rose Hill Cottage entlang.
Miss St. John, die sich so mehr als Hund, denn als Frauchen fühlte, folgte ihm.
Im Cottage war es dunkel. Chase und Miranda hatten es am Morgen verlassen, und jetzt lag es einsam da. Schade. Solche hübschen Cottages sollten nicht leer stehen, vor allem nicht im Sommer.
Sie erklomm die Stufen der Veranda und schaute prüfend durch das Fenster. Die Möbel wirkten unberührt. Die Bücher standen wieder im Regal. Sie konnte den Schimmer der aufgereihten Bücherrücken erkennen. Obwohl sie diese Bücher und Unterlagen gründlich untersucht hatten, fragte sie sich immer noch, ob sie nicht irgendetwas übersehen hatten. Ein kleiner, scheinbar unbedeutender Hinweis, der die Antwort auf Richard Tremains Tod enthielt.
Die Tür war verschlossen, aber sie wusste, wo der Schlüssel aufbewahrt wurde. Welchen Schaden könnte ein kleiner Besuch schon anrichten? Was Rose Hill betraf, hatte sie sich immer ein wenig wie die Eigentümerin gefühlt. Schließlich hatte sie hier in der Nähe schon als Kind gespielt. Und als sie erwachsen war, hatte sie den Tremains einen Gefallen getan und Rose Hill im Auge behalten.
Ozzie wirkte glücklich, wenn er durch den Garten streunen durfte.
Miss St. John nahm den Schlüssel aus dem Blumenkasten, schloss die Tür auf und ging hinein.
Das Wohnzimmer wirkte still und traurig. Sie schaltete die Lampen an und wanderte herum, während sie mit Blicken alle Ecken und Kanten der Möbel untersuchte. Sie hatten diese Dinge bereits durchsucht. Es hatte keinen Zweck, es noch einmal zu wiederholen.
Dann ging sie durch die Küche, durch die beiden Schlafzimmer und kehrte wieder nach unten zurück. Keine Anhaltspunkte. Nichts Auffälliges.
Sie hatte sich bereits zum Gehen gewandt, als ihr Blick auf den Teppich vor der Tür in der Diele fiel. Und da erinnerte sie sich an eine Szene aus Tess of the D’Ubervilles. Eine vertrauliche Nachricht, die unter der Tür hindurchgeschoben und dabei versehentlich unter den angrenzenden Teppich geraten war. Eine Notiz, die nie gefunden wurde, weil sie den Blicken verborgen blieb.
Diese Erinnerung war so lebendig, dass es sie überhaupt nicht überraschte, einen Umschlag unter dem Teppich zu finden, nachdem sie sich gebückt hatte, um eine Ecke des Teppichs hochzuheben.
Diese Notiz stammte von M. Der gewünschte Empfänger hatte sie nie gefunden und nie gelesen.
»Der Schmerz lebt. Er ist ein Ungeheuer, das an meinen Organen nagt. Es wird nicht sterben. Es will nicht sterben. Du hast es dorthin
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