Gefaehrliche Begierde
St. Giles heißt. Wo genau ist das?«
»Das liegt nördlich von Soho, irgendwo in der Nähe der High Street.« Sara machte eine vage Handbewegung.
»Ist das nicht die Gegend, wo du gelebt hast?«
Sara errötete und presste die Lippen zusammen.
Alex drängte weiter. »Du möchtest nicht, dass ich sehe, wo du früher gewohnt hast, nicht wahr, Sara?«
»Nein, Miss. Meine Mutter war so erleichtert, als sie sah, dass ich von diesem schrecklichen Ort weg war und auch von
dem elenden Leben, das die meisten Menschen dort führen. Als ich das Glück hatte, eine Stellung als Zofe in dem wohlhabenden Teil der Stadt zu bekommen, hat sie mir das Versprechen abgenommen, nicht öfter als zwei-oder dreimal im Jahr zurückzukommen.«
»Ich bestehe darauf, diese Gegend zu sehen, ich werde heute dorthin gehen.«
»Das ist kein Ort für eine Lady.«
»Dann werde ich Männerkleidung tragen, und du musst mich Alex nennen.«
»Es wäre besser, wenn Sie sich nicht zu modisch kleiden, denn sonst werden Sie ausgeraubt werden.«
Alex zog die älteste Kleidung ihres Bruders an, und Sara schlang einen schäbigen Schal um ihre Schultern, dann gingen sie zur Charing Cross Road. Je weiter nördlich sie kamen, desto heruntergekommener waren die Straßen. Die Gebäude, an denen sie vorübergingen, wurden zusehends schäbiger. Die Gegend war voller stinkender Gassen und verfallener Häuser. Abgerissene, barfüßige Kinder liefen zwischen abgemagerten Hunden auf den von Ratten heimgesuchten Straßen einher und suchten nach Essensresten. Männer schliefen in den Eingängen der Häuser, und die Mädchen waren betrunken. Es schien, als hätte jede Frau, an der sie vorbeigingen, ein Baby an der Brust, während sie bereits das nächste Kind erwartete.
Alex griff nach Saras Hand und drückte sie. »Es tut mir Leid, Sara. Ich hatte keine Ahnung.« Keine Ahnung, dass es solche Slums überhaupt gab.
»Wenn Hopkins, der Butler, herausfindet, woher ich komme, werde ich entlassen.«
»Ich verspreche dir, dass du immer eine Stellung haben wirst, Sara, und ich werde nicht zulassen, dass Hopkins etwas über dich erfährt. Ich weiß, dass Bedienstete größere Snobs sein können als die Mitglieder der gehobenen Gesellschaft.«
Sara nahm Alex mit in ein heruntergekommenes Gebäude, in dem es Dutzende von Einraum-Wohnungen gab. Der Gestank war entsetzlich. Alex hielt sich die Nase zu und wartete, während Sara an eine ramponierte Tür klopfte. Sie wurde von einer alten Frau geöffnet, und Alex stellte erschrocken fest, dass es sich bei dieser Frau um Saras Mutter handelte, die zwar erst um die vierzig Jahre war, jedoch sehr alt aussah.
»Himmel, du sollst deinen Freund nicht hierher bringen, Liebes!«
Sara nahm den Cockney-l5ialekt ihrer Mutter an und erklärte, wer Alex war. Sie sprach so schnell, dass Alex nur etwa jedes zehnte Wort verstand, obwohl sie fasziniert zuhörte.
Saras Mutter war sauber und das Zimmer ordentlich, ein deutlicher Kontrast zu den anderen Bruchbuden in dem verwahrlosten vierstöckigen Haus.
»Bist du ein Einzelkind?« Alex war neugierig, wie es möglich war, dass Sara aus einer solchen Gegend kommen konnte.
»Nein, meine Mutter hatte sieben Kinder, ich bin das jüngste. Die Jungen sind alle erwachsen und leben nicht mehr zu Hause, der Himmel allein weiß, wo sie sind. Zwei meiner Schwestern sind tot, Gott sei ihrer Seele gnädig.«
»Wer hat dir beigebracht, wie man richtig spricht? Wo hast du das Benehmen einer Dame gelernt, Sara?«
»Von Maggie, die auf der anderen Seite des Flurs lebt. Sie hat mich zu sich genommen, als ich noch ein kleines Mädchen war und meine Mutter so viele Mäuler zu stopfen hatte. Maggie war eine vornehme Frau, die harte Zeiten erlebt hat. Ich habe ihr alles zu verdanken. Ich werde sie Ihnen vorstellen, aber Sie sollten nicht zu nahe an sie herankommen«, warnte Sara. »Sie hat die Schwindsucht.«
Ehe sie gingen, sah Alex, wie Sara ihre Mutter umarmte und ihr etwas Geld gab. Sie würde mit Dottie darüber reden, der Zofe den Lohn zu erhöhen. Dann gingen sie über den
Flur. Maggies Gesicht strahlte, als sie Sara entdeckte, doch Alex fühlte einen dicken Kloß im Hals, als sie die eingefallenen Wangen und tief liegenden Augen der Frau sah, die Sara aus der Hölle errettet hatte.
»Maggie, das ist mein Freund Alex.«
»Wie geht es Ihnen, Sir? Es ist mir eine Freude, den Gentleman kennen zu lernen, der Saras Freund ist.«
Alex verbeugte sich. »Meine Lady, die Freude ist ganz auf meiner
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