Gefaehrliche Gedanken - Zu schoen zum sterben
Fäden liefen zusammen. Ich war dem Mörder auf der Spur. Und wenn ich Pech hatte, wusste der Mörder das auch schon.
In einem Kinofilm würde die Musikuntermalung jetzt immer bedrohlicher werden.
Dadadada-ssssseemmm-padong-dadaaaaaa!
Na ja. Muss man sich natürlich als Melodie vorstellen. Und von so unheilschwangeren Klängen begleitet, wird aus dem vermeintlich normalen Schulalltag eine bedrohliche Kulisse, bei der der Zuschauer ahnt, nein, weiß, dass bald das Böse zuschlagen wird.
Hauptfigur (in dem Fall ich – in aller Bescheidenheit – ist ja schließlich mein Leben) sitzt im Physikunterricht. Der Lehrer schreibt Formeln zur Berechnung von Kraftübertragung an die Tafel. Eine Apparatur zur Darstellung von Zug- und Druckbelastung auf wirbelähnliche Bauteile steht auf dem Tisch. Alles ist normal. Alles ist friedlich. Man hört die einlullende Stimme des Lehrers, der Formeln referiert, die seine Schülerinnen innerhalb weniger Sekunden vergessen haben werden. Nur die Streberin (Nora) in der ersten Reihe schreibt pflichtschuldig mit, ihr Füller kratzt über das Heft. Das Mädchen neben ihr (Nevaeh) gibt zumindest vor, dem Unterricht zu folgen, dabei malt sie sich ein Leben mit Kerem, dem unerreichbaren türkischen Prinzen, aus. Noch weiter rechts tuscheln einige Mädchen, eine von ihnen ist die boshafte Coco, die gerade in diesem Moment vielleicht ein fieses Gerücht über die Hauptfigur in Umlauf bringt – das wird ihr noch leidtun. Vielleicht prahlt sie aber nur wieder mit dem Auto, das sie von ihrem Vater geschenkt bekommen wird, sobald sie den Führerschein in Händen hält. In der letzten Reihe tuscheln die zwei Mädchen von der Spaßfraktion (Beatrix und Solveig) und kichern über harmlose Scherze, die dem Zuschauer noch kindischer vorkommen angesichts des drohenden Untergangs. Die Hauptfigur sitzt ganz hinten links. An der Fensterfront. Sie konzentriert sich auf den Unterricht, wenn sie nicht gerade den Haarknoten ihrer Klassenkameradin Heidrun Zumke bestaunt, der wie ein stramm aufgewickeltes Knäuel Paketschnur aussieht. Die Hauptfigur lehnt sich in ihrem Stuhl zurück, nichts ahnend, denn sie ist naiv genug zu glauben, die Schulmauern könnten sie vor dem Verderben schützen. Dabei baut gerade jetzt, in diesem Moment, in einem gegenüberliegenden Gebäude der Mörder sein Präzisionsgewehr zusammen, schraubt den Schalldämpfer auf, sein Gesicht eine eiserne Maske. Ohne jede Gefühlsregung stützt er das Gewehr auf einen Tisch, öffnet das Fenster vor ihm und schiebt die Mündung über das Fensterbrett. Er hat beste Sicht auf das Klassenzimmer. Durch das Zielfernrohr im Visier: der Hinterkopf der Hauptfigur. Sie trägt einen perfekten 1960er-Jahre-Pferdeschwanz, das blonde Haar fällt wie Wasser von einer breiten Klippe hinunter, es schimmert wie goldene Seide im Sonnenlicht. (Das habe ich jetzt mal dazuerfunden, damit die Zuschauer mehr Angst um die Heldin haben. Denn wenn sie schon nicht die Heldin bedauern, die sich schließlich selbst in diese doofe Lage gebracht hat, dann sollten sie wenigstens untröstlich sein, dass mit ihr auch die üppigen blonden Haare… ach, ich merke, ich schweife mal wieder ab.)
Ich sah es genau vor mir: Den Killer, das Gewehr, mein Hinterkopf im Fadenkreuz (mit stinknormalem Pferdeschwanz, seufz), ich sah den Finger am Abzug, es prickelte in meinem Nacken – PENG!
Ein Schuss peitschte durch den Raum, die starke Schallwelle wehte die Flimmerhärchen in meinem Gehörgang zu Boden, aber noch tat es nicht weh, noch kippte ich nicht, Gesicht voran, auf mein Pult. In Zeitlupe hob ich meinen Arm und befühlte meinen Hinterkopf auf der Suche nach der Eintrittswunde, nach Blut, aber da war nichts. Vielleicht hatte er ein Millimeterprojektil benutzt, das nur eine klaffende Austrittswunde riss, aber auch meine Stirn war unversehrt. Oh, das war perfide! Denn ich wusste, das dunkle, kalte Nichts wartete, mich zu umhüllen mit seiner endlosen Ewigkeit.
Da juckte es mich plötzlich am Bein.
Ich kratzte mich und musste feststellen, dass die Heldin mit ihrer mittelprächtigen Frisur überhaupt nicht tot war. Noch nicht mal angeschossen war sie!
Und dann hörte ich Gelächter. Das Publikum lachte! Und ich kehrte wieder in die Realität zurück. Dabei stellte ich Folgendes fest: Der Knall war nicht von einem Präzisionsgewehr abgefeuert worden, sondern von einer Plastikflasche, die Beatrix auf den Boden gefallen war. Alles war in bester Ordnung.
Stimmung: heiter.
Tote:
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