Gefaehrliche Gedanken - Zu schoen zum sterben
Mörderin. Und sie war hinter mir her!
DADADADA-SSSSSEEMMM-PADONG-DADAAAAAA!
»Ist gebongt, mache ich«, unterbrach ich Ulrike Berger und brachte ihr Endlosgeschwafel damit zum Ende. »Tschüss«, sagte ich noch, dann rannte ich zur Tür. Sobald ich mich in Bewegung gesetzt hatte, legte Nora einen Zahn zu. Ich sah noch aus dem Augenwinkel, wie sie plötzlich hektisch alles in ihren Rucksack warf. Die Verfolgungsjagd begann! Aus einem Impuls heraus nahm ich nicht die Haupttreppe, die rechter Hand hinunterführte, sondern sprintete nach links Richtung Notausgangstreppe am Ende des Gangs, hinter den Aufzügen. Vor dem Aufzug warteten wie immer Deborah und Fabienne, die grundsätzlich jede körperliche Anstrengung vermieden. Ich eilte an meinen Klassenkameradinnen vorbei, murmelte einen Abschiedsgruß und öffnete die feuersichere Tür, hinter der das schmucklose, kahle Treppenhaus lag, in dem es immer ein bisschen nach kaltem Zigarettenrauch stank und das (außer Hausmeister Schmitz) niemand freiwillig benutzte. Hinter mir ertönte das leise Klingeln, das anzeigte, dass der Aufzug im zweiten Stock angelangt war.
»Deborah, wartet«, hörte ich Nora keuchen, gerade bevor die schwere Tür der Notausgangstreppe ins Schloss fiel. Mist. Sie hatte den Aufzug noch bekommen. Sie würde vor mir unten sein. Sie würde unten auf mich warten. Sie würde mich kriegen. Ich nahm zwei Stufen auf einmal, sprang die Treppe runter und schlitterte auf der Geraden ein Stück auf dem Geländer, das breit wie eine Rutschbahn war und meine Geschwindigkeit enorm beschleunigte. So hatte ich in der Rekordzeit von weniger als zwölf Sekunden den ersten Stock erreicht. Ich würde es schaffen. Doch dann legte ich eine Vollbremsung ein. Hahaha! Ich würde einen Umweg machen und Nora abschütteln. Da könnte sie unten gleich schön nach mir suchen, wie sie wollte. Da wäre ich schon längst weg. Ich würde jetzt zum anderen Flügel gehen und die Schule durch den Seiteneingang der Aula verlassen. Von da wären es nur wenige Meter bis zum Eingangstor, hinter dem Enzo auf mich wartete. Zum ersten und einzigen Mal freute ich mich darauf, ihn zu sehen. Also, nicht unbedingt ihn persönlich, aber einen Bodyguard, der beauftragt war, unter Einsatz seines Lebens jegliche Attacken auf meine Gesundheit abzuwehren. Ja, in dieser Situation war ich tatsächlich froh, einen Leibwächter zu haben! Ich öffnete die Tür und linste hinaus auf den Flur des ersten Stocks. Nur ein paar vereinzelte Schülerinnen der Mittelstufe, die schwatzend der Haupttreppe zustrebten, sonst war niemand zu sehen. Ich eilte zwischen ihnen hindurch, vorbei an den naturwissenschaftlichen Räumen, dann bog ich nach rechts ab, durch den breiten Durchgang in den Clara-Schumann-Flügel. Hier war es schon leer. Die Mädchen abgezogen, die Klassenräume verwaist. Ich atmete auf. Und musste lachen über meine hyperaktive Vorstellungskraft, die mir mal wieder nur einen Streich gespielt hatte. Wenn es das Unterrichtsfach Blühende Fantasie gäbe, da wäre ich wirklich einsame Spitze! Was für eine Panik ich geschoben hatte. Wegen Nora. Also ehrlich! Die würde ich mit einem von Enzos Kampftricks locker überwältigen. Aber das brauchte ich ja jetzt nun nicht, weil ich ihr entwischt war. Ich war einfach zu schlau für sie gewesen. Ich war wieder bester Stimmung. Erst in dem Moment, als ich die Stimme hörte, wurde mir mein Fehler bewusst.
»Natascha«, sagte die Stimme und schnitt mit ihrem stählernen Klang meine gerade wiedergefundene Selbstsicherheit in der Mitte entzwei, sie fiel zu Boden wie die nutzlos gewordenen Hälften eines Balls. »Ich habe dich schon überall gesucht.« Törichterweise war ich in das Revier von Pascal von Cappeln eingedrungen.
Ich drehte mich um. Da stand er. Pascal von Cappeln. Sein Haar zerzaust, die Augen fieberhaft flackernd, sein Gesicht leer, bereinigt von allen menschlichen Regungen. Er war bereit. Bereit, mir die wichtigste Lehre meines Lebens zu erteilen, nämlich dass Mörderjagd kein Kinderspiel war. Die Tasche seiner Strickjacke wurde ausgebeult von einem schweren Gegenstand. Ich sah etwas Schwarzes glänzen. Pascal von Cappeln bemerkte meinen Blick, legte seine Hand auf die Jackentasche und nickte mir zu. Und da wusste ich es. Es war eine Pistole. Er hatte eine Pistole.
»Ich möchte kein Aufsehen erregen«, sagte er rau. »Komm mit.«
NEIN!, wollte ich schreien und abhauen oder ihn umhauen mit Enzos Kehlenschlagtechnik, aber er stand erstens zu weit
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