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Gefaehrliche Gedanken - Zu schoen zum sterben

Gefaehrliche Gedanken - Zu schoen zum sterben

Titel: Gefaehrliche Gedanken - Zu schoen zum sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanna Dietz
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ich gerade, als ich plötzlich noch eine andere Art Gänsehaut bekam – und zwar die der unangenehmen Sorte. Denn außer Fabiennes gab es noch zwei Stimmen, die herausstachen. Eine war erstaunlich tief und kam von dem Mädchen mit den breiten Wangenknochen, Irina, die andere entfleuchte dem perfekt geschminkten Mund der Dita-von-Teese-Imitation, die Evelyn hieß und überhaupt keine Hemmungen hatte, ihre Stimmbänder und meine Toleranz zu strapazieren. Mit anderen Worten: Sie sang viel zu laut dafür, dass sie es nicht konnte. Entweder hatte sie keine Ahnung von ihrem mangelnden Talent oder sie ignorierte es schlichtweg. Ich war offensichtlich nicht die Einzige, der das auffiel. Mir entgingen nicht die genervten Blicke auf die berauscht schmetternde Evelyn, die auch theatralisch die Hände einsetzte, als würde sie gerade im Finale von Deutschland sucht den Superstar auftreten. Die hatte echt Nerven und Selbstvertrauen, stellte ich anerkennend fest. Als das Lied zu Ende war, klatschte Pascal. »Sehr schön! Dann seid ihr ja jetzt warm für den Unterricht. Wie letzte Woche angekündigt, widmen wir uns der Musikpsychologie. Welche Emotionen, meint ihr, kann Musik hervorrufen?«
    Ich musste meine Meinung über Musikunterricht revidieren. Er konnte tatsächlich interessant sein. Pascal erzählte spannend, fragte nach, interessierte sich für unsere Meinung und lobte jeden, der sich beteiligte. Gerade erzählte er über einen antiken griechischen Arzt, der die Auswirkungen von Musik auf den Pulsschlag untersucht hatte, da flüsterte Nora neben mir: »Ich muss mal auf die Toilette.«
    Sie stand auf und ging zur Tür hinaus. Ich dachte mir nichts dabei. Erst nach zehn Minuten fiel mir auf, dass sie gar nicht wiederkam. Komisch. Das war eine ziemlich lange Zigarettenpause. Was machte sie bloß? Die Toiletten waren doch am Ende des Ganges. Mmmhhh. Und wenn sie zum Biolabor… Nein, wieso sollte sie auf eigene Faust nach der Leiche suchen? Blödsinn. Das machte keinen Sinn. Aber ich wurde unruhig. Also hob ich meinen Finger, Pascal nickte mir auffordernd zu.
    »Entschuldigung, ich muss mal zur Toilette.«
    »Gegen natürliche Bedürfnisse ist man machtlos«, antwortete er schmunzelnd. »Geh nur!«
    Ich stand auf und ging raus. Während des Unterrichts auf dem Flur rumzulaufen, ist immer komisch, finde ich. Man meint, das konzentrierte Lernen in den Klassenräumen wie eine elektrische Spannung im ganzen Gebäude spüren zu können. Alles ist leise, nur die eigenen Schritte sind zu hören. Irgendwie aufregend. Als ob man was Verbotenes machen würde. Na ja, ich wollte ja auch was Verbotenes machen. Ich stieg die Treppe hoch in den zweiten Stock, lief um die Ecke, durch den Torbogen mit der Aufschrift »Marie Curie«. Der Flur war hier oben mit hellem Parkett bedeckt. An den Wänden hingen weiße glockenförmige Lampen an Messingarmen, die wie schwarze Blumenranken aussahen. Es wirkte alles antik und herrschaftlich. Selbst die modernen Kassettentüren zum Chemielabor und zum Biolabor waren dem Jugendstil nachempfunden. Am Ende des Ganges führten drei Stufen zu einem Eckerker und den Toiletten. Die nächste Tür war das Biolabor. Mein Herz klopfte schneller. Ich hatte keine Ahnung, ob dort gerade Unterricht war oder nicht. Aber die Tür war nur angelehnt. Ich blieb davor stehen und lauschte. Nichts zu hören. Ich überlegte kurz, ob ich klopfen sollte, ließ es dann aber bleiben. Wenn ich in einen Unterricht reinplatzte, konnte ich immer noch sagen, ich sei neu, ich hätte mich verlaufen. Das tote Mädchen erschien vor meinem geistigen Auge, ich atmete tief ein und riss die Tür auf. Der Raum war leer. Bis auf eine Schülerin. Nora. Sie stand gebeugt zwischen einem Stuhl und einem Tisch und betrachtete gebannt den Boden.
    »Hey, was machst du denn da?«, fragte ich.
    »Ach, hey!« Sie richtete sich schnell auf. »Ich dachte, ich helfe dir suchen.« Sie schob den Stuhl wieder nah an die Tischplatte und wischte die Hände an der Hose ab.
    »Hast du da gerade was eingesteckt?«, fragte ich.
    »Nein! Ich dachte, da wäre eine Spur, aber da war nichts.«
    Sie kam mir lächelnd entgegen. »Hast du schon im Chemielabor geguckt?«
    »Nein. Wann hätte ich das denn machen sollen?«, sagte ich patzig. Irgendwas stimmte hier nicht.
    »Ja, genau. Wir haben ja Unterricht.« Sie grinste verschwörerisch. Ich ging dorthin, wo der Stuhl mit der Leiche gestanden hatte. Ließ mich in die Hocke sinken und dann sogar auf alle viere runter, um den

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