Gefaehrliche Gedanken - Zu schoen zum sterben
Computerausdruck, der nicht einen einzigen handgeschriebenen Buchstaben enthielt. »Einfach perfekt.«
»Und wie gefällt dir mein Foto?«
»Ist schön. Ist das gleiche wie am Schwarzen Brett, nicht? Dein Jahrgangsbestenbild?«
»Ja.«
»Wo hast du das denn her?«
»Aus der Schulbibliothek. Da gibt es Jahrgangsbücher von jeder Klasse. Da kann man sich digitale Abzüge von allen Fotos machen lassen.«
So ernüchternd Noras Freundebucheintrag auch war, das war eine sehr interessante Information, die mich dazu brachte, in der nächsten Stunde ein paar Schleimpunkte einzufahren. Wir hatten Geschichte. Ist nicht gerade eines meiner Lieblingsfächer, aber Manuela Busse versuchte mit überbordendem Eifer, den langweiligen Stoff interessant rüberzubringen. Sie war optimistisch farbenfroh gekleidet, lächelte ununterbrochen und unterstrich ihre Sätze mit den energischen Handbewegungen eines Motivationstrainers. Und sie setzte voll auf Powerpoint, um uns die europäische Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg zu veranschaulichen. Wenn sie nicht so angestrengt enthusiastisch gewesen wäre, hätte ich sie superklasse gefunden, aber so hat sie die starke Tendenz, mir tierisch auf den Keks zu gehen. Trotzdem meldete ich mich freiwillig, um ein dröges Referat zur Entstehung der EU zu übernehmen. Manuela Busse war erleichtert, dass sich jemand freiwillig meldete, und ich war erleichtert, weil ich die perfekte Rechtfertigung hatte, in der Pause in die Schulbibliothek zu gehen.
Die Bibliotheksleiterin, eine schmächtige junge Frau mit einer gefühlten Siebzig-Zoll-Brille, erwartete mich schon mit einem Stapel Bücher zu Europa. Damit zog ich mich auf einen Platz in der Ecke zurück, aber sobald die Brillenschlange sich einen Kaffee holen ging, eilte ich zu dem Regal mit den Jahrgangsbüchern. Sie waren nach Jahr und Stufen sortiert und ich schnappte mir die meiner Klasse. Jedes Halbjahr wurden Bilder von der Klasse, den Jahrgangsbesten und besonderen Schulaktionen wie dem Schulfest, Musik- und Theateraufführungen gemacht. Und dann gab es Bilder von Schullandheimaufenthalten, obwohl das Wort Landheim etwas zu rustikal klang. Es waren eher Nobelherbergen für die hochkarätige Schülerschaft. Ich suchte nach Bildern von Laura und Milena und Naomi. Letztere fand ich nicht. Aber jede Menge Bilder von Laura, die stets die Jahrgangsbeste gewesen war, und sehr viele von Laura und Milena. Sie hingen wie die Kletten immer zusammen: auf Schulfesten, bei Projektwochen und Ausflügen. Auf jedem Bild wirkten sie vertraut wie Zwillinge. Es klingelte schon zur nächsten Stunde, als ich zum Bildband vom letzten Schuljahr kam. Die Brillenschlange sah von ihrem Tresen zu mir herüber.
»Bin gleich fertig«, sagte ich und blätterte hektisch durch den Fotoband. Doch hier suchte ich vergeblich nach Bildern von Laura und Milena. Nicht mal beim Klassenfoto standen sie noch nebeneinander. Jede war immer nur einzeln zu sehen. Und Milena sah auf einmal verloren aus, wie eine einsame Prinzessin, die alles hat, nur niemanden, der sie liebt. Und noch etwas fiel mir auf: Im ersten Halbjahr der Stufe zwölf war Alina plötzlich Klassenbeste gewesen, im zweiten Halbjahr dann Nora. Laura war also in ihren Noten abgerutscht, obwohl sie bis dahin immer zuverlässig die Beste gewesen war. Warum? Wo sie doch angeblich so eine Streberin gewesen war? Ich klappte die Bücher zu und ging zum Tresen.
»Werden hier eigentlich auch die Noten von uns Schülerinnen archiviert?«, fragte ich die Brillenschlange, die sich gerade mit reptilienhafter Langsamkeit ein Leberwurstbrötchen in den Mund schob. Es würde mich nicht wundern, wenn sie es im Ganzen runterwürgen würde. Sie schüttelte den Kopf.
»Wo werden die Noten denn archiviert?«
Sie hatte immer noch den Mund voll, deswegen schrieb sie auf einen Zettel: »Klassenbücher im Tresor, kein Zugang für Schüler.«
Mist. Doch dann fiel mir ein, dass es natürlich Klassenbücher gab, die nicht im Tresor lagen. Und das waren die aktuellen.
31
Unter dem Arm des Zweimetermannes Jochen Siebert hatte das Klassenbuch die Größe einer Postkarte. Es klemmte zwischen seinem fleischigen Ellenbogen und dem Oberkörper. Als er sich setzte, legte er es auf das Pult. Auch im Sitzen war er gigantisch. Sein Bauch wurde von der Tischkante eingedrückt, der Magen ruhte auf der Platte. Die gestreckten Arme stützte er links und rechts ab und seine wurstigen Hände ragten bis an den Rand des Pults heran, wo das dunkelgrüne
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