Gefaehrliche Gedanken - Zu schoen zum sterben
Klassenbuch lag. Wie ein Krake bewachte er es. Vermutlich hatte er noch lange durchsichtige Tentakel wie eine Qualle, die er um das Buch geklebt hatte. Er erzählte von Mangroven und ihrer Bedeutung für die tropischen Küstenregionen. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, denn ich überlegte, wie ich ihn von dem Klassenbuch trennen konnte. Zum einen gab es natürlich den guten alten Feueralarm. Aber vermutlich würde er sich sofort das Buch schnappen und für einen geordneten Abzug sorgen. Ich musste mir was anderes einfallen lassen. Vor mir alberten Beatrix und Solveig miteinander rum. Neben mir saß Suze, die Sportskanone. Ihr Skateboard lehnte an der Wand. Merle mischte mal wieder den Unterricht auf mit überflüssigen Fragen. Evelyn befühlte ihre Dita-von-Teese-Frisur und überlegte vermutlich, wie sie noch älter aussehen konnte. Durch die Fummelei löste sich eine Strähne aus einem Knoten, was Evelyn nervös auf ihrem Platz rumrutschen ließ. Coco und Jennifer hingen in ihren Stühlen, als ob sie gleich ins Koma fallen würden. Selbst Milena, sonst der Inbegriff der aristokratischen Haltung, schien sich nur durch einen letzten Rest an Willenskraft aufrecht zu halten. Draußen regnete es Schneematsch, der Himmel war grau, hier drinnen lähmte uns die bleiern warme Heizungsluft. Unterricht im November war immer deprimierend, da konnte der Lehrer noch so sehr von tropischen Stränden schwafeln. Und dann hatte ich eine Idee. Es klingelte zur Fünf-Minuten-Pause. »Leihst du mir mal eben dein Skateboard?«, fragte ich Suze. »Kriegst du gleich wieder.«
»Was hast du vor?«
»Kleine Überraschung«, sagte ich. »Hey Beatrix. Hast du Lust, ein You-Tube-Video zu drehen?«
»Klar, ey«, sagte sie und ein Leuchten ging über ihr Gesicht.
»Dann halt deine Kamera bereit.«
Ich schnappte mir verstohlen das Skateboard und verschwand nach nebenan in den Chemieraum, wo zum Glück gerade kein Unterricht war. In Windeseile tippte ich die Tastenkombination des gesicherten Lagerraums ein. Die LED-Anzeige blinkte grün, ich drückte die Tür auf und eilte in den Raum mit den ausgestopften Tieren. Eine halbe Minute später schickte ich den Iltis auf Suzes Skateboard mit großem Schwung den Gang hinunter und kreischte in allerbester Tussi-Manier. Dann lief ich zurück in den Chemieraum und durch die Verbindungstür ins Biolabor. Es war, wie ich mir gedacht hatte: Evelyn kam pünktlich aus den Toiletten, wo sie ihre Frisur gerichtet hatte, sah das Vieh auf dem Skateboard heranbrausen und schrie wie eine Wahnsinnige. »Eine Ratte! Hier ist eine Ratte auf einem Skateboard!«
»Was?«, dröhnte Jochen Siebert und wuchtete sich hoch. Mit drei Schritten war er an der Tür und es dauerte nur wenige Sekunden, bis sich alle Schülerinnen samt Lehrer auf dem Gang drängelten. »Ein surfender Iltis«, hörte ich jemanden schreien. Dann Gelächter. Ich war mittlerweile ans Pult gestürmt, hatte das Klassenbuch aufgeschlagen und suchte die Seite mit dem Notenüberblick. Sie war ziemlich unübersichtlich und selbst für jemanden mit fotografischem Gedächtnis eine Herausforderung. Aber wozu hat man ein Smartphone? Ich hatte es schon auf Kamera eingestellt und knipste schnell die Seite. Gerade als die Ersten an ihre Tische zurückkehrten, klappte ich das Buch zu. Als ich mich umdrehte, fing ich Noras argwöhnischen Blick auf. »Wollte nur mal sehen, was die blöde Friedrichs am Freitag über mich reingeschrieben hatte«, erklärte ich schnell.
»Und?«
»Ach, so einen Unsinn von wegen ich hätte Probleme mit Autoritäten.«
Nora lachte etwas gekünstelt. »Wie kommt die denn darauf?«
»Ich habe keine Ahnung«, sagte ich lächelnd. Trotzdem ließ mich das Gefühl nicht los, dass Nora misstrauisch geworden war. Aber das war mir egal. Im Gegenteil. Ich war noch lange nicht fertig mit ihr. Als Jochen Siebert jemanden an die Tafel holen wollte, um eine Skizze über die Auswirkungen der Zerstörung der Mangrovenwälder auf das Ökosystem Küste anzufertigen, warf ich meinen Radiergummi scharf und traf Noras Nacken. »Aua«, rief sie empört und drehte sich zu mir um. »Das warst du!«
»Wie bitte?«, fragte ich zuckersüß.
»Natascha war’s«, sagte Nora zu Jochen Siebert. Ich schaute Siebert an und klimperte unschuldig mit den Wimpern.
»Nora, komm du doch bitte nach vorne«, sagte der Lehrer. Nora warf mir einen giftigen Blick zu, folgte aber mürrisch der Aufforderung. Und als sie das Wort Lebensraum schrieb, sah ich es. Das a, das
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