Gefährliche Geliebte
ich nie wieder was von ihr gehört. Ich hatte keine Ahnung, wo sie war oder was sie tat. Also sag mir jetzt einfach die ungeschminkte Wahrheit. Es war Izumi, ja?«
Er nickte. »Wenn du's wirklich wissen willst, ja, das war eindeutig sie. Aber es tut mir leid, dir das sagen zu müssen.«
»Also jetzt ehrlich, wie sah sie aus?«
Er schwieg eine Zeitlang. »Zuerst möchte ich etwas klarstellen, okay? Ich war in derselben Klasse wie sie, und ich fand sie ganz schön attraktiv. Sie war ein nettes Mädchen. Nett und hübsch. Keine hinreißende Schönheit, aber, na ja, ansprechend. Habe ich recht?«
Ich nickte.
»Und du willst wirklich die Wahrheit hören?«
»Nur zu«, sagte ich.
»Es wird dir nicht gefallen.«
»Das ist mir egal. Sag mir einfach die Wahrheit.«
Er trank wieder einen Schluck Whisky. »Ich war auf dich eifersüchtig, weil du ständig mit ihr zusammen warst. Ich hätte auch gern so eine Freundin gehabt. Jetzt kann ich's dir ja wohl gestehen. Ich habe sie nie vergessen. Ihr Gesicht ist mir unauslöschlich in Erinnerung geblieben. Deswegen habe ich sie auch, als sie mir völlig unerwartet über den Weg gelaufen ist, sofort wiedererkannt, selbst noch nach achtzehn Jahren. Was ich damit sagen will, ist folgendes: Ich habe überhaupt keinen Grund, schlecht über sie zu reden. Es war auch für mich ein Schock. Ich wollte mir einfach nicht eingestehen, daß es wirklich stimmte. Laß es mich mal so ausdrücken: Sie ist nicht mehr attraktiv.«
Ich biß mir auf die Lippe. »Wie meinst du das?«
»Die meisten Kinder, die in dem Haus wohnen, haben Angst vor ihr.«
»Angst?« wiederholte ich. Ich sah ihn verständnislos an. Er mußte das falsche Wort gebraucht haben. »Wie meinst du das - Angst vor ihr?«
»Hör mal, findest du nicht, es ist genug? Ich wollte eigentlich überhaupt nicht davon reden.«
»Einen Moment noch - was tut sie denn? Sagt sie etwa häßliche Sachen zu den Kindern?«
»Sie spricht mit keinem ein Wort. Wie ich schon sagte.«
»Dann fürchten sich die Kinder also vor ihrem Gesicht?«
»Genau«, sagte er.
»Hat sie eine Narbe oder etwas in der Art?«
»Keine Narben.«
»Also, was finden sie denn dann zum Fürchten?«
Er trank seinen Whisky aus und stellte das Glas auf die Theke. Und er sah mich ziemlich lange unverwandt an. Er wirkte unruhig und sehr ratlos. Aber es lag noch etwas anderes in seiner Miene. Ich entdeckte darin Spuren des Gesichts, das er auf der Oberschule gehabt hatte. Er hob den Blick und starrte eine Zeitlang ins Leere, als betrachte er einen Fluß, der dahinströmt und in der Ferne verschwindet. Schließlich fand er wieder Worte. »Ich kann das schlecht erklären, und ich will's auch gar nicht. Also hör auf zu fragen, ja? Du müßtest sie mit eigenen Augen sehen, um es zu begreifen. Wer es nicht selbst gesehen hat, kann es gar nicht verstehen.«
Ich nickte und sagte nichts mehr, nippte nur ab und zu an meinem Wodka Sour. Er hatte in einem ruhigen Ton gesprochen, aber ich wußte, daß ich mir jede weitere Frage zu diesem Thema sparen konnte.
Er begann, von Brasilien zu erzählen, wo er zwei Jahre lang gearbeitet hatte. Ob du's glaubst oder nicht, sagte er, aber ich hab da unten einen ehemaligen Klassenkameraden aus der Mittelschule wiedergetroffen, in Saõ Paulo! War Ingenieur bei Toyota.
Seine Worte gingen an mir vorbei. Als er aufstand, um zu gehen, schlug er mir auf die Schulter. »Na ja, die Menschen ändern sich eben mit den Jahren, und jeder anders. Ich hab keine Ahnung, was damals zwischen euch abgelaufen ist. Aber was es auch gewesen sein mag - es war nicht deine Schuld. Irgendwie macht jeder so eine Erfahrung, stärker oder schwächer. Sogar ich. Kein Witz. Ich hab das gleiche durchgemacht. Aber man kann nichts daran ändern. Jeder führt sein eigenes Leben. Niemand kann die Verantwortung für einen anderen übernehmen. Es ist wie das Leben in der Wüste. Man muß sich einfach daran gewöhnen. Hast du auf der Grundschule auch diesen Disney-Film gesehen - Die Wüste lebt?«
»Klar«, sagte ich.
»Unsere Welt ist auch nicht anders. Es regnet, und die Blumen blühen. Kein Regen, und sie verdorren. Insekten werden von Echsen aufgefressen, Echsen werden von Vögeln aufgefressen. Aber am Ende sterben sie alle, einer wie der andere. Sie sterben und vertrocknen. Eine Generation stirbt ab, und die nächste übernimmt. So läuft das. Jede Menge Lebensweisen. Und jede Menge Todesarten. Aber am Ende macht das nicht den geringsten Unterschied. Übrig bleibt nur
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