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Gefährliche Geliebte

Gefährliche Geliebte

Titel: Gefährliche Geliebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Licht und schaltete den Gasofen im Wohnzimmer ein. Und ich holte eine Flasche Brandy und zwei Schwenker aus dem Regal. Wir setzten uns nebeneinander auf das Sofa, wie wir es vor so vielen Jahren immer getan hatten, und ich legte die Nat-King-Cole-Platte auf. Der rote Feuerschein des Ofens spiegelte sich in unseren Brandy-Gläsern. Shimamoto saß mit untergeschlagenen Beinen da. Einen Arm hatte sie auf die Rückenlehne des Sofas gelegt, der andere lag in ihrem Schoß. Genau wie in den alten Zeiten. Damals hatte sie wahrscheinlich ihr Bein verbergen wollen; dann war es ihr zur Gewohnheit geworden. Nat King Cole sang »South of the Border«. Vor wie vielen Jahren hatte ich dieses Lied zum letztenmal gehört?
    »Wenn ich als Junge dieses Stück hörte, habe ich mich immer gefragt, was >südlich der Grenze< denn wohl läge«, sagte ich.
    »Ich mich auch«, sagte sie. »Als ich älter wurde und den englischen Text verstehen konnte, war ich enttäuscht. Es war einfach nur ein Lied über Mexiko. Ich hatte immer gedacht, südlich der Grenze müsse etwas ganz Herrliches liegen.«
    »Was denn zum Beispiel?«
    Shimamoto strich sich das Haar zurück und faßte es locker im Nacken zusammen. »Ich bin mir nicht sicher. Etwas Schönes, Großes und Weiches.«
    »Etwas Schönes, Großes und Weiches«, wiederholte ich. »War es eßbar?«
    Sie lachte. Ihre weißen Zähne schimmerten auf. »Das bezweifle ich.«
    »Etwas, was man anfassen kann?«
    »Wahrscheinlich.«
    »Womit wir wieder bei den Wahrscheinlichs wären.«
    »In einer Welt voller Wahrscheinlichs«, sagte sie.
    Ich streckte die Hand aus und legte sie auf ihre Finger, die auf der Rückenlehne lagen. Ich hatte ihren Körper so ewig lange nicht mehr berührt - seit dem Rückflug aus Ishikawa nicht mehr. Als meine Finger die ihren streiften, sah sie kurz zu mir auf, dann schlug sie die Augen wieder nieder.
    »South of the border, west of the sun«, sagte sie.
    »West of the sun?«
    »Hast du schon mal von einer Krankheit namens Sibirische Hysterie gehört?«
    »Nein.«
    »Ich hab davon vor langer Zeit einmal irgendwo gelesen, auf der Mittelschule vielleicht. Ich kann mich beim besten Willen nicht mehr erinnern, in was für einem Buch. Jedenfalls, diese Krankheit befällt sibirische Bauern. Versuch dir das Folgende vorzustellen: Du bist ein Bauer und lebst ganz allein in der sibirischen Tundra. Tagein, tagaus pflügst du deine Felder. Ringsum nichts, so weit das Auge reicht. Im Norden der Horizont, im Osten der Horizont, im Süden, im Westen das gleiche. Jeden Morgen, wenn die Sonne im Osten aufsteigt, gehst du hinaus auf deine Felder und arbeitest. Wenn sie direkt über deinem Kopf steht, machst du Mittagspause. Wenn sie im Westen untergeht, gehst du nach Hause und legst dich schlafen.«
    »Nicht gerade die Lebensweise eines Barbesitzers aus Aoyama.«
    »Kaum.« Sie lächelte und neigte den Kopf ganz leicht zur Seite.
    »Jedenfalls geht es so immer weiter, Jahr um Jahr.«
    »Aber in Sibirien arbeiten sie im Winter nicht auf den Feldern.«
    »Im Winter ruhen sie sich aus«, sagte sie. »Im Winter bleiben sie zu Hause und erledigen andere Arbeiten. Wenn der Frühling kommt, gehen sie wieder hinaus auf die Felder. Du bist so ein Bauer. Stell es dir vor.«
    »Ich hab's«, sagte ich.
    »Und dann, eines Tages, stirbt etwas in dir.«
    »Wie meinst du das?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Irgend etwas stirbt. Tagein, tagaus siehst du die Sonne im Osten aufgehen, über den Himmel ziehen, dann im Westen untergehen, und etwas zerbricht in dir und stirbt. Du wirfst den Pflug beiseite und gehst, ohne einen Gedanken im Kopf, in Richtung Westen. Auf ein Land zu, das westlich der Sonne liegt. Wie ein Besessener wanderst du immer weiter, Tag um Tag, ohne zu essen oder zu trinken, bis du irgendwann zusammenbrichst und stirbst. Das ist die sibirische Hysterie.«
    Ich versuchte, mir einen sibirischen Bauern vorzustellen, der tot auf der Erde liegt.
    »Aber was ist dort, westlich der Sonne?« fragte ich.
    Wieder schüttelte Shimamoto den Kopf. »Ich weiß es nicht.
    Vielleicht nichts. Oder vielleicht doch etwas. Jedenfalls etwas anderes als südlich der Grenze.«
    Als Nat King Cole begann, »Pretend« zu singen, sang Shi- mamoto, wie sie es vor langer, langer Zeit immer getan hatte, leise mit.
    Pretend you're happy when you're blue
    lt isn't very hard to do
    »Shimamoto-San«, sagte ich, »nachdem du verschwunden warst, habe ich sehr lange über dich nachgedacht. Sechs Monate lang,

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