Gefährliche Glut
beobachtete, deren Gesicht weiß wie die Wand war. Sie starrte die Treppe an wie ein gefährliches Tier. Nachdem sie einen Schritt darauf zu gemacht hatte, blieb sie wieder stehen, und einen Atemzug später ging sie in Zeitlupe in die Knie.
Rocco war mit drei langen Sätzen bei ihr und fing sie auf. Aber sie war gar nicht ohnmächtig geworden; ihre Augen standen weit offen und waren dunkel vor Verwirrung.
„Mir fehlt nichts“, sagte sie tonlos. „Ich bin nur ein bisschen müde, das ist alles.“
Sogar ihre Lippen waren weiß. Da sich ihr Mantel geöffnet hatte, konnte er durch die Seidenbluse spüren, wie ihr Herz klopfte. Sie hatte die Statur eines Kindes – nur dass ein Kind nicht solche Brüste hatte. Die sich gegen seinen Brustkorb pressten, was leider nicht folgenlos blieb, weder für seinen Körper noch für seine Sinne.
Ohne ihren Protest zu beachten, trug er sie die Treppe hinauf und sagte einfach nur schroff: „Hören Sie auf, so herumzuzappeln.“
Julie, der das alles schrecklich peinlich war, nahm ihre Umgebung nur verschwommen wahr. Noch eine weiße Marmortreppe, eine Ahnengalerie, ein langer Flur mit weißen Wänden und sehr dunklen glänzenden Holztüren, von denen eine Tür offen stand.
Und dann lag sie auch schon in einem großen weichen Himmelbett, und es fühlte sich herrlich an, obwohl ihr Herz immer noch wie ein Schmiedehammer klopfte. Sie kam sich vor wie auf einem Filmset, in einem Zimmer aus dem neunzehnten Jahrhundert. Auf der anderen Seite des Raums gab es einen großen Kamin, in dem ein Feuer loderte. Julie beobachtete, wie die Haushälterin Josh in ein transportables Kinderbett legte, das am Fußende ihres Betts stand, und in einem melodischen Singsang beruhigend auf ihn einredete. Julie wollte zu ihm gehen, aber sie fühlte sich zu schwach, um aufzustehen.
Rocco, der mit vor der Brust verschränkten Armen an der Wand lehnte, musterte sie nachdenklich. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Vielleicht war sie ja drogensüchtig, was bei ihrem Lebensstil nicht weiter verwunderlich wäre. Er kannte die Anzeichen, immerhin begegneten sie einem im Alltag fast auf Schritt und Tritt. Obwohl … nach Drogenmissbrauch sah das eigentlich nicht aus. Sie war viel zu dünn … war sie magersüchtig? Während des Flugs hatte sie jedenfalls so gut wie nichts gegessen, und war es heutzutage nicht fast ein Muss, dass man als Frau mager war wie eine verhungerte Katze – möglichst mit operativ vergrößerten üppigen Brüsten?
Maria informierte ihn, dass das Kind eingeschlafen war.
Er nickte und wandte sich wieder zum Bett um. „Wann haben Sie zum letzten Mal etwas Vernünftiges gegessen?“
Julie versuchte sich zu erinnern, aber es gelang ihr nicht.
Wann war das gewesen? Und warum war das überhaupt wichtig?
Sie lebte seit Wochen in einem Albtraum. Essen war unwichtig geworden und das Letzte, woran sie dachte. Weil ihr schlicht der Appetit vergangen war. Sie hatte ihre ganze Familie verloren. Und James – zum zweiten Mal und diesmal endgültig. Als sie ihn an Judy verloren hatte, war sie verzweifelt gewesen. Aber sein Tod hatte noch eine ganz andere Dimension, die nicht nur sie betraf, sondern ebenso Josh und natürlich James selbst. Allein die Vorstellung, sich etwas zu essen machen zu müssen, hatte sie krank gemacht. Dazu hatte ihr schlicht die Energie gefehlt.
Rocco schaute sie immer noch an. Er wartete auf eine Antwort, und Julie wusste, dass er sie nicht in Ruhe lassen würde, bis er sie hatte.
Sie setzte sich mühsam auf.
„Wenn ich nicht verschleppt worden wäre, hätte ich heute Abend bestimmt irgendwann irgendetwas gegessen.“ Sie versuchte so verächtlich wie möglich zu klingen, wobei sie sich fragte, ob ihre Stimme wirklich so dünn klang, wie es sich in ihren eigenen Ohren anhörte.
„Hätte, wäre! Und was haben Sie gegessen? Heute Mittag beispielsweise?“
Was ging ihn das überhaupt an?
„Heute Mittag hatte ich keine Zeit. Es gab viel zu tun, weil meine Kollegin nicht da war.“
„Und zum Frühstück?“
„Kaffee und Toast.“
Das war eine Lüge. Sie hatte sich Kaffee und Toast zwar gemacht, aber zu mehr als zwei Schluck Kaffee war sie nicht gekommen, dann hatte sie losgemusst.
„Und das geht jeden Tag so, ja? Sie hungern sich fast zu Tode, nur weil Sie glauben, so dünn, wie Sie sind, begehrenswerter zu sein, stimmt’s?“
„Nein!“
In ihrer Stimme schwang Empörung mit.
„Das behaupten Sie, trotzdem ist das Gegenteil der Fall.
Dass Sie nichts
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