Gefährliche Glut
wenn sie und Josh heute Nacht an einen unbekannten Ort verschleppt wurden und nie mehr zurückkehrten?
Ihre Reaktion, die nicht nur eine Folge der letzten Stunden war, sondern auch eine Folge all dessen, was in den vergangenen Monaten passiert war, fiel heftig aus. Sie spürte, wie ihr die Selbstkontrolle entglitt. Jetzt hatten Angst und Panik freie Bahn. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, während sie keuchend nach Atem rang.
Den Weg, der von seinem Privatflugplatz zur Villa Rosa führte, kannte Rocco fast im Schlaf. Die Villa Rosa war nur eins von mehreren Landgütern der Leopardis, und doch fühlte er jedes Mal, wenn er die letzte Straßenbiegung umfuhr und die Villa erblickte, eine Mischung aus Stolz und Freude in sich aufsteigen.
Langsam schälte sich das Anwesen aus der Dunkelheit heraus. Julie sah die dicken Mauern aus gelbem Sandstein, die von großen schmiedeeisernen Scheinwerfern angestrahlt wurden. Das Flutlicht erhellte nicht nur das Gebäude, sondern auch die nähere Umgebung. Dadurch fühlte sich Julie etwas beruhigt, ihre Panik ließ langsam nach, und sie wagte sogar aufzuatmen.
Wer wäre von so einem Anblick nicht entzückt? Die Villa war ein echtes Schmuckstück, auf das ihr Besitzer stolz sein konnte.
„Das ist ja ein Wunder an Perfektion … wirklich wunderschön.“ Julie schaffte es nicht, die Bewunderung aus ihrer Stimme herauszuhalten, während sie zum höchsten Punkt des Eingangsportals hinaufschaute, wo ein ebenfalls angestrahltes Familienwappen prangte – vermutlich das der Leopardis.
„Ja, stimmt“, gab Rocco zurück. „Die Villa wurde im achtzehnten Jahrhundert erbaut und war ursprünglich nur als Sommersitz gedacht, weil es in der Stadt im Sommer einfach zu heiß ist. Caspar Leopardi hat sie selbst entworfen und anschließend die berühmtesten Baumeister Italiens mit ihrem Bau beauftragt. Ihm war es wichtig, in dem Entwurf alle Einflüsse zu vereinen, denen die Leopardis im Lauf der Zeit ausgesetzt waren. Deshalb findet man hier Referenzen an die griechische wie auch an die römische Architektur sowie einen Einfluss des Arabischen, der allerdings in Sizilien insgesamt häufig anzutreffen ist.“
Während er sprach, passierten sie das kunstvoll verzierte Portal, von wo aus man in einen wunderschön und aufwändig gestalteten Innenhof gelangte, der von einer imposanten Marmortreppe dominiert wurde.
„Der Treppenaufgang ist aus Carraramarmor“, erklärte Rocco. „Er führt ins piano nobile – also in das repräsentative Hauptgeschoss der Villa.“
„Ich weiß, was piano nobile bedeutet“, entgegnete Julie gekränkt, weil er sie für so ungebildet zu halten schien. Aber er hatte offenbar nicht vor, sich zu entschuldigen.
Seit er sie auf der Straße vor ihrem Haus angesprochen hatte, fiel sie von einer Ohnmacht in die andere, ein seelischer Zustand, der langsam seinen Tribut zu fordern schien, wie Julie jetzt benommen erkannte. Sie fühlte sich mehr als seltsam – so schwach und atemlos, ihr Herz klopfte viel zu schnell, und sie zitterte innerlich.
Vor dem Treppenaufgang brachte Rocco den Wagen zum Stehen und sagte schroff: „Bleiben Sie sitzen, ich komme herum und nehme Ihnen das Kind ab.“ Was Julie veranlasste, Josh eilig aus dem Kindersitz zu heben, weil sie ihn Rocco auf gar keinen Fall überlassen wollte. Sie drückte ihren kleinen Neffen fest an sich.
Sobald sie an der frischen Luft war, nahm der Schwindel, den sie verspürte, noch zu. Jetzt wurde ihr sogar leicht übel, obwohl eigentlich das Gegenteil zu erwarten gewesen wäre. Mit Josh im Arm und einem flauen Gefühl im Magen schaute sie zum Treppenaufgang. So viele Stufen! Und ihr war so elend, dass sie ganz weiche Knie hatte. Über dem mit Säulen verzierten Eingangsportal hingen in Stein gehauene Köpfe von Fabelwesen, die Wasser spieen. Wieder wurde sie von Zweifeln überwältigt.
Warum hatte sie sich bloß auf diese Sache eingelassen? Sobald wie möglich würde sie eine Erklärung sowie angemessene Zusicherungen verlangen … und einen Anwalt … ja, auf jeden Fall einen Anwalt, dachte sie kämpferisch, während sie die ersten Stufen nahm.
Sie hatte die Treppe zur Hälfte erklommen, als es passierte. Irgendwie rutschte sie auf einer nassen Stufe aus und taumelte, mit Josh im Arm.
Ihr blieb ihr Schrei im Hals stecken, als sich starke Arme um sie legten und sie festhielten. Roccos männlicher Duft stieg ihr in die Nase, fremd und doch seltsam vertraut, fast, als ob sich ihre Sinne bereits auf ihn
Weitere Kostenlose Bücher