Gefährliche Glut
feststellen, dass der Pullover weg war, den sie über der Heizung zum Trocknen aufgehängt hatte. Und alle übrigen Sachen waren ebenfalls verschwunden. Aber jetzt war keine Zeit mehr, um Russell zu fragen, was damit passiert war. Julie ermahnte sich, ruhig zu bleiben, und ging nach nebenan, um einen Blick auf die Kleidungsstücke zu werfen, die der Steward für sie in den Schrank gehängt hatte. Zum Glück begnügte sich Josh im Moment damit, einfach nur still dazuliegen, während sie mit einem unguten Gefühl die Garderobe musterte, die irgendein fremder Mensch für sie besorgt hatte.
Designerjeans – Judys Lieblingsmarke – eine Seidenbluse, ein Kaschmirpullover sowie ein edler Trenchcoat mit einem warmen herausnehmbaren Futter, all das hing da einladend vor ihr auf Kleiderbügeln im Schrank. Geschmackvolle, zeitlos elegante Kleidung, wovon jedes einzelne Stück ihr Budget wahrscheinlich bei weitem überstieg, und alles bezahlt von einem Mann, der ihr nichts als Verachtung entgegenbrachte. Wenn sie diese Kleider anzog, hieß das, dass sie seine Verachtung zumindest teilweise akzeptierte und bereit war, sich von den Leopardis vereinnahmen zu lassen. Aber was sollte sie sonst tun, nachdem ihre eigenen Kleider verschwunden waren? Sie konnte das Flugzeug schließlich nicht im Bademantel verlassen, ganz davon abgesehen, dass auch dieser nicht ihr, sondern Rocco Leopardi gehörte.
Fast trotzig nahm sie die Kleider aus dem Schrank, doch ihre Bewegungen wurden behutsamer, sobald sie den Kaschmirpullover und die feine Seide berührte. So wunderbare Stoffe durfte man nicht lieblos behandeln, es wäre eine Sünde. Das weiche Kaschmir blieb an ihren Fingerspitzen hängen, die von der Hausarbeit rau waren.
Sie war entschlossen, die teuren Lederstiefel im Schrank zu lassen, doch nachdem sie schon viel zu lange vergeblich nach ihren eigenen Schuhen gesucht hatte, musste sie auch in diesem Punkt nachgeben.
Gerade wollte sie den Bademantel weghängen, als Russell mit einer eleganten weichen Tasche aus Wildleder erschien.
„Da ist alles drin, was Sie vielleicht unterwegs für das Baby brauchen, auch eine neue Flasche. Die übrigen Sachen lasse ich direkt in die Villa Rosa schicken“, informierte er Julie mit einem Lächeln. „Ach, und vergessen Sie nicht, den Trenchcoat anzuziehen. Sie werden noch froh sein, dass Sie ihn haben.“ Er schnitt eine Grimasse. „Wenn es hier im Winter regnet, hört es so schnell nicht wieder auf.“
Sie hatte ihre eigene Umhängetasche. Designertaschen waren nur etwas für Angeber und zum Fenster hinausgeworfenes Geld. Aber Russell hatte alles bereits fix und fertig gepackt. Was war wichtiger? Ihr Stolz oder Josh’ Wohlergehen? Hier ging es schließlich nicht darum, zu gewinnen, oder?
4. KAPITEL
Es goss in Strömen. Der Regen prasselte auf den Schirm, den der Steward, mühsam gegen den Wind ankämpfend, über ihren Köpfen hielt, während er Julie mit Josh im Arm zu einem Wagen begleitete. Dann wartete er, bis sie mit Josh auf dem Rücksitz Platz genommen hatte, bevor er zum Flugzeug zurückkehrte, um Rocco abzuholen.
Das grelle Licht auf dem Rollfeld erhellte eine nicht identifizierbare Umgebung: Einen Streifen struppiger Vegetation jenseits des Zauns, der in kaltes Neonlicht getaucht war, und dahinter nachtschwarze Dunkelheit, die ebenso Land wie Himmel oder Meer sein konnte.
Die cremefarbenen Lederpolster des Autos wirkten so teuer und empfindlich, dass Julie sich fast nicht hineinzusetzen wagte. Sie schaute auf Josh und hoffte, dass er nicht ausgerechnet jetzt spuckte.
Es dauerte nicht lange, bis sie das Rollfeld und seine Lichter hinter sich gelassen hatten und von dem schwarzen Regenvorhang geschluckt wurden. Julie fröstelte, obwohl es im Auto schön warm war. Die Dunkelheit war so undurchdringlich, dass es sich fast anfühlte, als ob sie in den Sitz gepresst würde, während der gespenstisch heulende Wind den Regen gegen die Windschutzscheibe peitschte.
Julie wusste nicht viel über Sizilien, aber das Wetter hatte sie sich immer deutlich anders vorgestellt. Sie hätte nie für möglich gehalten, dass es hier so kalt und stürmisch war.
Nur wenig später schoss ihr ein höchst beunruhigender Gedanke durch den Kopf. Was war, wenn Rocco Leopardi weit weniger ehrenhafte Absichten verfolgte als behauptet? War es möglich, dass Josh ihm im Weg stand und er ihn loszuwerden versuchte? Warum dachte sie erst jetzt daran? Wer würde es erfahren – oder wen würde es interessieren –
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