Gefaehrliche Maskerade einer Lady
verwerflich? Sie ist die Tochter Ihres Sohnes, Ihr eigen Fleisch und Blut. Als Waise war sie gezwungen, ihren Lebensunterhalt seit ihrem dreizehnten Lebensjahr selbst zu verdienen. Es ist eine Schande.“
„Ja, genau“, erklärte Lady Cleeve selbstgerecht. „Und ich ersuche Sie, mir jede Erklärung zu ersparen, auf welche Weise sie ihren Lebensunterhalt verdiente.“
Ayisha sank gegen den Türpfosten. Sie schloss die Augen vor Schmerz über diese scharfen Worte. Ihrer Großmutter musste ein niederträchtiges Gerücht zu Ohren gekommen sein, das ihre Meinung über sie vergiftet hatte. Aber woher? Von wem?
„Madam, Sie stellen meine Geduld auf eine harte Probe.“ Rafes Stimme klang schneidend wie ein Peitschenhieb. „Warum, glauben Sie, hat Ayisha nach dem Tod ihrer Eltern als Junge verkleidet gelebt? Natürlich um keine Männerblicke auf sich zu ziehen, und nicht das Gegenteil. Sie hat ihren kargen Lohn mit harter Arbeit verdient, hat Botengänge erledigt, Gebäck und Brot auf der Straße verkauft und Brennholz gesammelt. Sie hat in ständiger Angst vor dem Hungertod gelebt.“
Es entstand eine kurze Pause, dann fuhr Rafe fort: „Die Schande trifft Ihren Sohn. Er hat seine Sorgfaltspflicht für sein Kind sträflich vernachlässigt und sich um nichts gekümmert.“
Ayisha hörte einen vornehmen verächtlichen Laut. „Ich habe sie von meinem Fenster aus bei der Ankunft gesehen. Sie sieht keineswegs wie ein Junge aus. Glauben Sie mir, verehrter Mr Ramsey, Frauen dieser Sorte verstehen sich glänzend darauf, einen Gentleman zu umgarnen!“
„Ayisha ist aber keine Frau dieser Sorte“, wies Rafe sie scharf zurecht. „Sie ist einzigartig, und sie ist meine zukünftige Gemahlin.“
„Was? Sie können dieses Mädchen unmöglich heiraten! Großer Gott, ihre Mutter war eine Sklavin!“
Die Worte hingen in der Luft. Ayisha konnte nicht mehr atmen. Woher wusste Lady Cleeve davon? Diese letzte Wahrheit hatte Ayisha ihm bislang verschwiegen.
Ein lastendes Schweigen ließ darauf schließen, dass die Aussage großes Gewicht hatte. Sehr großes Gewicht. Zitternd, die Faust zwischen den Zähnen, wartete Ayisha bang auf Rafes Antwort.
„Eine Sklavin? Welchen Beweis haben Sie für diese Behauptung?“ Zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, klang Rafe nicht mehr selbstbewusst.
„Aha, das wussten Sie also nicht.“
Wieso habe ich es ihm nicht gestanden, fragte sich Ayisha zerknirscht. Sie hatte vorgehabt, es ihm zu sagen, als sie ihm die Wahrheit über ihre uneheliche Geburt berichtet hatte. Aber sein wiederholter Heiratsantrag hatte sie so sehr verblüfft, dass sie nicht klar denken konnte.
Und danach hatte sich keine passende Gelegenheit mehr dazu ergeben.
Ayisha barg ihr Gesicht in zitternden Händen. Sie hatte es ihm aus Feigheit verschwiegen. Aber es war doch nicht die Schuld ihrer Mutter, dass sie als junges Mädchen verschleppt worden war.
Ayishas uneheliche Geburt hatte ihn nicht gestört, und sie hatte sich eingeredet, das Schicksal ihrer Mutter würde ihn auch nicht stören, nicht weil sie wirklich davon überzeugt gewesen wäre, sondern weil sie so glücklich war und dieses Glück durch nichts getrübt werden sollte.
Die Tochter einer Sklavin war gleichfalls eine Sklavin, ungeachtet dessen, wer ihr Vater war.
„Für mich hat es keine Bedeutung, wer ihre Mutter war“, erklärte Rafe schließlich kühl.
Das stimmt nicht, dachte Ayisha. Sein langes Schweigen war der deutliche Beweis dafür, dass ihn diese Nachricht schockierte und bis ins Mark traf. Nun war er lediglich störrisch, wollte nicht eingestehen, dass er einen schweren Fehler begangen hatte. Ihr Vater war genauso starrköpfig gewesen.
Durch die geschlossene Tür hörte sie die Stimme ihrer Großmutter. „Wenn sie Ihnen das verschwiegen hat, was mag sie sonst noch verheimlichen ? Sie will ein unbescholtenes Leben geführt haben, aber woher wollen Sie wissen, ob sie Ihnen die Wahrheit sagte? Es ist doch denkbar, dass sie bereits Dutzende Männer hatte!“
„Ayisha war Jungfrau, als ich sie kennenlernte.“
„Woher wissen Sie das?“
Rafe schwieg.
„Aha, Sie hatten bereits eine Affäre mit ihr. Jetzt verstehe ich.“ Lady Cleeve klang müde, erschöpft und traurig, als ginge das alles über ihre Kräfte. Ayisha wünschte, sie könnte das Gesicht der alten Dame sehen.
Lady Cleeve wurde schnippisch. „In diesem Fall werden Sie wohl ein Haus für sie in St. John’s Wood mieten. Wie ich hörte, bringen Gentlemen ihre Mätressen gern in
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