Gefaehrliche Maskerade einer Lady
Wieso hatte sie sich einen anderen Namen gegeben?
Die Fragen zehrten an ihm.
Er wollte sie so schnell wie möglich nach England bringen. Nur dort konnte sie die Vergangenheit endgültig begraben und ein neues Leben beginnen.
Aber zunächst galt es, sie von den Bindungen ihres jetzigen Lebens zu lösen. Von der Frau Laila und dem Straßenjungen Ali.
Diese Laila schien großen Einfluss auf Miss Cleeve zu haben. Ali schien eine Laufbahn als Straßendieb vorbestimmt, auch wenn er sich noch recht ungeschickt anstellte. Miss Cleeve aber hatte mühelos die hohe Gartenmauer erklommen und sich lautlos ins Haus geschlichen. Nicht zum ersten Mal, darauf hätte er schwören können.
War Laila vielleicht so etwas wie eine Meisterdiebin? Er wollte die Frau kennenlernen, und zwar bald.
Wie zufällig trieb sich Ali wenig später unten auf der Straße herum. Rafe vermutete, der Junge schleiche absichtlich ums Haus, in der Hoffnung, etwas Essen zu ergattern.
„Komm rein, es gibt einen Imbiss“, ließ Rafe ihm über den Dolmetscher ausrichten.
Ali ließ sich nicht zweimal bitten, setzte sich an den Tisch und wartete mit glänzenden Augen.
Higgins, der dem Straßenjungen ungewöhnliches Wohlwollen entgegenbrachte, setzte ihm einen Teller Sandwiches vor sowie Obst und ein Glas Milch. Während Ali genussvoll aß, fragte Rafe ihn aus.
„Sag mal, musst du für diese Laila arbeiten?“
„Ja, natürlich, ich muss die ganze Zeit arbeiten. Ständig muss ich arbeiten“, erklärte der Junge.
„Was musst du denn arbeiten?“
Ali vergewisserte sich mit Blick über die Schulter, dass sie nahezu alleine waren. Dann beugte er sich vor und sagte im verschwörerischen Ton: „Frauenarbeit!“ Er leerte das Glas und wischte sich den Milchbart am Ärmel ab. Higgins reichte ihm eine Serviette. Ali dankte ihm ernsthaft und schob sie in die Tasche. Higgins seufzte.
Rafe interessierte sich nicht für Servietten, die aus seinem Haushalt verschwanden. „Was ist denn Frauenarbeit?“
„Ich muss unten am Fluss Kräuter sammeln, den Hof fegen und Brot auf der Straße verkaufen“, antwortete Ali. „Brot verkaufen ist nicht schlimm, weil Lailas Fladen die besten in ganz Kairo sind, und die zerkrümelten darf ich essen. Und wenn ich den Hof kehre, sieht mich niemand. Aber Kräuter sammeln“, er schüttelte traurig den Kopf. „Die anderen Jungen machen sich darüber lustig und lachen mich aus.“ Rafes Mundwinkel zuckten verdächtig. Vielleicht wurde der Junge doch nicht so ausgebeutet, wie er zunächst vermutet hatte. Ali schien ein aufgewecktes Kind zu sein.
Er dachte an Miss Cleeves heftige Ablehnung auf seinen Vorschlag, Ali könne mit ihr nach England kommen. Würde der Junge sich gleichfalls dagegen sträuben? Die beiden hatten einander augenscheinlich gern.
„Weißt du, dass ich Ayisha nach England bringen werde?“
Ali kaute völlig unbeeindruckt sein Sandwich und sprach mit vollem Mund: „Das hat sie mir gesagt, aber sie geht nicht mit. Sie ist stur wie ein Maulesel. Niemand kann Ayisha dazu bringen, etwas zu tun, was sie nicht will.“
„Was hältst du davon, wenn du mit ihr nach England gehen würdest?“
Ali schluckte den Bissen hinunter, legte das Sandwich auf den Teller und dachte nach. „Nach England?“
„Ja.“
„Ayisha und ich, wir beide?“
„Ja.“
„Warum?“
„Weil Ayisha eine Großmutter in England hat, die sich wünscht, dass Ayisha zu ihr kommt und mit ihr lebt.“
Ali nickte und nahm das Sandwich wieder zur Hand. „Alte Leute brauchen eine Familie, die sich um sie kümmert.“
„Die alte Dame ist reich. Ayisha wird auch reich sein, wenn sie mit mir kommt.“
Ali nickte zustimmend. „Das ist gut.“
„Und du könntest Ayisha begleiten, wenn du möchtest.“
Ali warf ihm einen listigen Blick zu. „Laila auch?“
Rafe schüttelte den Kopf. „Nein, nicht Laila“, sagte er entschieden. Lady Cleeve mochte bereit sein, einen zehnjährigen ägyptischen Straßenjungen bei sich aufzunehmen als Preis für ihre wiedergefundene Enkelin. Aber eine ältere arabische Magd würde sie mit Sicherheit ablehnen.
Ali zuckte gleichmütig mit den Schultern und biss in einen Apfel. „Dann bleibe ich hier. Laila hat sonst niemand hier, nur Omar, und der taugt nichts.“
„Du würdest also lieber hier bleiben?
Ali schaute ihn treuherzig an. „Laila hat mich von der Straße geholt. Sie behandelt mich wie ihren Sohn. Und ein Sohn kümmert sich um seine Mutter. Ich bleibe hier. Wenn ich groß bin, habe ich
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