Gefährliche Nebenwirkung (German Edition)
Enkel. Niemand wird mir das nehmen.
An der Straße können wir nicht entlanggehen, nicht einmal zwischen den Bäumen hindurch den Hügel hinunter. Unsere einzige Möglichkeit zu überleben besteht darin, den Berg weiter hinaufzusteigen, den Dschungel zu durchqueren und auf der anderen Seite wieder hinunterzuklettern.
14
Als ich mit zwölf eines Nachmittags auf dem Weg von der Schule nach Hause war, kam ein Junge namens Michael Mahon mit seinem Fahrrad über den Bürgersteig auf mich zu gefahren. Er bremste scharf und hinterließ eine schwarze Spur auf dem Asphalt. Er drehte sich um und betrachtete sie, offensichtlich beeindruckt.
»Vor dem Haus steht ein Krankenwagen. Er holt wohl deinen Dad ab«, sagte er.
Wenn Michael den Mund aufmachte, kam grundsätzlich nur Scheiße raus. Er erzählte immer, dass er und seine Mutter eigentlich Millionäre seien und sich verstecken müssten. Dass sie in dem kleinen, verbauten Haus lebten, damit niemand merkte, wie viel Geld sie besaßen, und Michaels Vater, wo immer er auch hin verschwunden war, nicht zurückkam und ihnen alles wieder wegnahm. Er behauptete auch, von königlichem Geblüt zu sein, den schwarzen Gürtel in Karate zu besitzen, der Hüter von geheimen Codes zu sein, und wenn er im Sommer wegfuhr, prahlte er damit, in Frankreich Urlaub gemacht zu haben. »Merci beaucoup«, antwortete er auf grundsätzlich alles,bis ihn irgendwann mal ein anderer Junge auf dem Spielplatz verdrosch.
Ich ging einfach um ihn herum.
»Das ist kein Witz«, sagte er.
»Du bist ein Lügner«, erwiderte ich und ging weiter.
»Bin ich nicht.«
»Mein Dad ist bei der Arbeit, du Idiot.«
Ich konnte hören, wie er hinter mir sein Rad umdrehte und mir folgte. Ich war nur noch vier Blocks von zu Hause entfernt.
»Ich wusste, dass du hier lang kommen würdest. Ich hab dich früher schon mal gesehen.«
»Ach ja?«
»Und ich weiß, wo du wohnst.«
Irgendwie gefiel mir das nicht, obgleich heutzutage ja jeder weiß, wo der andere wohnt. »Na und?«
»Und ich weiß, was ich bei eurem Haus gesehen habe.«
»Lass mich in Ruhe«, sagte ich. »Oder ich schreie ganz laut, dass du mich vergewaltigen willst.«
»Okay, du Zicke. Ganz wie du willst. Aber der Mann auf der Trage sah genau aus wie dein Vater.«
Mir drehte sich der Magen um. Ich war jetzt drei Blocks von zu Hause entfernt, aber irgendwie fühlte es sich noch viel weiter an. Mein Vater hatte sich am Morgen darüber beklagt, dass er sich müde fühle. Meine Mutter hatte erwidert, dass er auch nicht gut aussehe und vorgeschlagen, er solle zu Hause bleiben.
Entweder hatte Michael mir einen bösen Streich spielen wollen oder mein Vater wurde tatsächlich von einem Krankenwagen abgeholt. Beides war schlimm.
Ich rannte los, während ich mit meinem großen Matheheft und zwei Büchern aus der Bibliothek kämpfte, die in Plastik eingeschlagen waren.
Wer die Nachtigall stört
und
Ein Baum wächst in Brooklyn
. Meine Hände klebten verschwitzt an dem Plastikeinband. Ich musste dreimal anhalten, weil sie mir zu Boden fielen.
Ich hörte die vielen Stimmen schon, noch bevor ich um die Ecke bog, sah das zuckende rote Licht, das sich in den Autos der Nachbarn spiegelte. Ich erreichte unser Grundstück, als der Krankenwagen gerade abfuhr.
Mehrere Nachbarn standen auf der Straße um meine Mutter herum. Mrs. Barbery strich ihr über den Rücken. Sie sah mich kommen und drehte meine Mutter zu mir herum.
Meine Mutter hielt ihre Fäuste vor die Brust gepresst, ihre Wangen waren tränenüberströmt. Ihre Hände zitterten, als sie sie mir auf die Schulter legte. »Steig in den Wagen. Wir müssen zu Daddy ins Krankenhaus.«
»Was ist passiert?«
»Ich glaube, er hatte einen Herzinfarkt. Mach schnell. Ich möchte nicht, dass er sich fragt, wo wir bleiben.«
»Aber ich dachte, er sei bei der Arbeit«, sagte ich, während ich zu verstehen versuchte, was eigentlich geschehen war. Mein Vater hatte mich am Morgen auf dem Weg zur Arbeit an der Schule abgesetzt, seine Aktentasche hatte wie immer zwischen uns auf dem Vordersitz gelegen. Er war zur Arbeit gefahren und deshalb konnte der Mann im Krankenwagen nicht mein Vater sein.
»Er hat sich mittags krankgemeldet und ist nach Hause gekommen«, erklärte Miss Barbery, als könne sie meine Gedanken lesen.
Wenn ich nur auf Michael Mahon gehört hätte. Wenn ich nur sofort nach Hause gerannt wäre, als er etwas von dem Krankenwagen gesagt hatte. Ich hätte nicht die letzte Gelegenheit verpasst, noch einmal mit
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